Teil Zwei: Grundkategorien: Ware, Wert, Arbeit und Fetischismus

1. Marx ' Gesellschaftstheorie

Im Folgenden wollen wir der Frage nachgehen, woauf die Marx 'sche Kapitalismuskritik abzuzielen versuchte. In den meisten Fällen wird Marx als Klassentheoretiker zitiert. Die eher oberflächlichen Rezeptionen, gerade wenn sie Marx kritisieren wollen, beziehen sich sehr häufig lediglich auf das „Kommunistische Manifest“. Dies ist gerade dann besonders peinlich, wenn eine solche Kritik mit wissenschaftlichem Anspruch formuliert wird. (Wie hier an der Uni öfters zu beobachten ist, wenn Marx als Pappkamerad für Klassentheorie nur deswegen aufgebaut wird, um „widerlegt“ zu werden). Dabei ist das „Kommunistische Manifest“ nun gerade die einzige veröffentlichte Schrift von Marx (und Engels), die als politische Streitschrift konzipiert gar nicht den Anspruch eines wissenschaftlichen Werkes mitbringt. Marx spätere Gesellschaftstheorie von dieser ausgehend zu kritisieren, ist etwa so sinnvoll, wie den Arbeitsmarktbegriff der zeitgenössischen VWL aus dem Bundestagswahlprogramm der CDU von 1960 zu entnehmen.

Wir wollen jetzt einen Blick auf die Herangehensweise werfen, die er im Kapital entfaltet. Dort beginnt seine Analyse nämlich weder mit Klassen, noch mit der Frage, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen könnte. Vielmehr versucht er sich einen Begriff von der kapitalistischen Gesellschaft zu machen, die er als warenproduzierende Gesellschaft versteht.

2. Die Ware

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung ', die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.“ (MEW23, S. 49)

Marx beginnt seine Analyse der „kapitalistischen Produktionsweise“ mit der Ware. Diese sieht er als zentrale Strukturkategorie, aus der heraus sich die Struktur und die Dynamik des Kapitalismus entwickeln lässt. Was genau ist jetzt diese „Ware“? Marx beginnt damit, dass eine Ware zunächst ein triviales Ding mit irgendeinem Nutzen ist. Diesen Nutzen nennt er den Gebrauchswert. Zur Ware wird ein Ding aber erst dann, wenn es in eine Tauschverhältnis eingebunden ist. Eine Ware ist also ein nützliches Ding, dass sich dadurch auszeichnet, dass es gegen eine andere Ware getauscht werden kann.

In der gesellschaftlichen Praxis des Tauschens – und Tauschen ist immer etwas Gesellschaftliches, es ist schließlich Resultat zwischenmenschlichen Handelns – tauscht sich eine Ware gegen eine bestimmte Proportion einer anderen Ware. Geschieht ein solcher Tausch zufällig, kann das Tausch-Verhältnis, also die getauschte Menge, recht zufällig und subjektiv bestimmt sein. Das gilt aber gerade nur für vorkapitalistische Tauschvorgänge. Marx geht es aber gerade nicht um Tausch, der hier und da auch vor dem Kapitalismus stattgefunden haben kann. Ihm geht es darum, den Kapitalismus zu analysieren, also eine ausgebildete Warenproduktion, in der der Warenaustausch zur bestimmenden Form gesellschaftlicher Organisation geworden ist. D.h., dass sowohl die Produktion darauf ausgerichtet ist für den Tausch zu produzieren, als auch der Lebensunterhalt in der Regel von Waren bestritten wird, die andere produziert haben. Und in einer solchen Gesellschaft bilden sich die Tauschverhältnisse nach einem bestimmten Prinzip aus und sind nicht mehr zufällig.

3. Wert und Tauschwert

Das Verhältnis, nachdem sich die Waren im Kapitalismus austauschen nennt Marx den Tauschwert. Die Frage ist jetzt, woran sich dieser Tauschwert bemisst.

„Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.“ (MEW23, S. 52)

Da es nur Sinn macht, Waren mit unterschiedlichen Gebrauchswerten zu tauschen, können keine stofflichen Eigenschaften oder die qualitativ verschiedenen Gebrauchswerte das Maß sein, nach dem getauscht wird. Was die gesellschaftliche Praxis in der Warenproduktion kennzeichnet, ist, dass es dort darum geht, für den Tausch Waren zu produzieren. Es werden also Produkte menschlicher Arbeit ausgetauscht. Und was diesen einzigst gemeinsam ist, ist, dass sie Produkte menschlicher Arbeit sind. Das Maß ist also die in der Produktion der Ware verausgabte Arbeit. Genauer: Die Zeit verausgabter allgemeiner, gesellschaftlich durchschnittlich notwendiger Arbeitszeit, die zur Produktion dieser Ware benötigt wird.

Diese Arbeit bildet nach Marx den Wert der Waren, der daher auch von dem Nutzen, den die Ware für verschiedene Menschen haben kann, völlig unabhängig ist. Wert und Tauschwert sind nicht das gleiche, auch wenn dieser Unterschied oft überlesen wird. Der Tauschwert ist dasjenige Verhältnis zwischen Waren, dass den Wert einer Ware in der Menge der anderen Ware darstellt. Diese Unterscheidung ist deswegen nicht unwichtig, weil es Marx darum geht herauszustellen, dass der Wert nicht zufällig im einzelnen Tauschakt entsteht, sondern nur vor dem Hintergrund einer entwickelten Warenproduktion verstanden werden kann. Erklären kann man ihn nicht aus dem einzelnen Tauschakt, sondern nur dann, wenn man die Warenproduktion und den Austausch von Arbeitsprodukten als allgemeine gesellschaftliche Praxis bereits voraussetzt und den einzelnen Tausch als Ausdruck dieser gesellschaftlichen Praxis betrachtet.

Übrigens, bereits diese abstrakte Bestimmung dessen, was Marx als Praxis der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt, die Produktion und den Tausch von Waren, verweist darauf, dass es Marx nicht darum ging, den Kapitalismus vom Standpunkt bürgerlicher Ideale aus der Aufklärung, wie etwa Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu kritisieren. Vielmehr sieht er darin bereits deren negative Verwirklichung: Es werden äquivalente Arbeitsquanta ausgetauscht (Gerechtigkeit), und zwar von freien Menschen, die als Warenbesitzer_innen (nicht als Stände oder leibeigene Un-Personen) vor der Warenform gleich gelten und freie Verträge schließen.

3.1. Exkurs: Sozialistische Wertbestimmung

Wir wollen uns jetzt kurz anschauen, wie der Marx 'sche Wertbegriff verdreht werden muss, wenn dieser als natürliche Kategorie missverstanden wird. Die DDR-Ökonomin Eva Müller etwa schreibt, sogar noch nach der Wende:

„Trotz umfangreicher Forschungen und einer Vielzahl von Theorien ist es bisher nicht gelungen, einen praktikablen Weg zur Messung der Nützlichkeit einer Gesamtheit unterschiedlicher Einzelprodukte zu finden. [...] Der Preis ist Ausdruck des Wertes einer Ware, der in ihr steckenden abstrakten Arbeit. Er kann aber wegen des Fehlens besserer und praktikabler Mittel auch zur Messung der Nützlichkeit herangezogen werden.“ (Eva Müller: Marxsche Reproduktionstheorie. Hamburg 2005)

Dieser Versuch, die Marx 'sche Theorie für eine realsozialistische Ökonomie brauchbar zu machen, zeugt von dem Unverständnis, mit dem die Theoretiker_innen des Realsozialismus Marx zitiert haben. Es ging ihm eben nicht darum, ein schlüssiges, widerspruchsfreies „System“ zu entwickeln, das sich praktisch umsetzen ließe. Vielmehr beschreibt er, was im Kapitalismus bereits Praxis ist, nur den Akteur_innen darin nicht unbedingt bewusst sein muss. Er möchte keine bessere Wertbestimmung liefern, sondern diesen Vorgang kritisieren und als gesellschaftlichen, d.h. unbewusst von Menschen gemachten, herausstellen.

Im Versuch, das, was im Kapitalismus unbewusst abläuft, nun bewusst durchzusetzen, muss Müllerdie Fehlannahmen diverser Theorien der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften wiederholen. Gerade diese waren es, die Marx versuchte zu kritisieren, indem er herausstellte, dass der Wert eine Abstraktion vom Gebrauchswert darstellen muss und daher von der Nützlichkeit des Dings vollständig unabhängig ist.

4. Arbeit

Mit der Feststellung, dass es bei der Bildung des Wertes um Arbeitszeit geht, wären wir bei der Kategorie Arbeit. Diese spielt bekanntlich auch im Marxismus eine zentrale Rolle. Wie man jetzt aber an der Analyse der Ware bereits sehen kann, geht es Marx, wenn er von „Arbeit“ spricht, nicht einfach nur um „menschliche Tätigkeit überhaupt“, die in allen Gesellschaften gleichermaßen geleistet werden müsste, sondern darum, was Arbeit im Kapitalismus bedeutet.

„Wenn also mit Bezug auf den Gebrauchswert die in der Ware enthaltene Arbeit nur qualitativ gilt, gilt sie mit Bezug auf die Wertgröße nur quantitativ, nachdem sie bereits auf menschliche Arbeit ohne weitere Qualität reduziert ist. Dort handelt es sich um das Wie und Was der Arbeit, hier um ihr Wieviel, ihre Zeitdauer.“ (MEW23, S. 60)

Der Arbeit im Kapitalismus kommt gleichermaßen wie der Ware ein Doppelcharakter zu. (wir erinnern uns, Ware ist sowohl Gebrauchswert als auch Wert.). Die Arbeit ist zum einen eine konkrete Tätigkeit, mit qualitativ unterschiedlichen Arbeitsschritten, um ein bestimmtes Produkt herzustellen. (z.B. Tischlern, Granaten bauen oder Törtchen backen). Zum anderen nimmt sie in der Warenproduktion als abstrakte Arbeit eine besondere Funktion ein. Gemeinsam haben verschiedene einzelne Arbeiten nichts Konkretes (denn als verschiedene konkrete Arbeiten sind sie ja gerade verschieden), sondern nur die Menge verausgabter, gesellschaftlich durchschnittlich-notwendiger Arbeitszeit. Als abstrakte Arbeit ist sie „Arbeit überhaupt“, also Arbeit, bei deren Betrachtung es nicht darum geht, was konkret getan wird, sondern nur darum, wieviel von ihr verausgabt wird. Im Kapitalismus verrichtete Arbeit ist also immer sowohl eine konkrete Tätigkeit, als auch zugleich unterschiedslose und damit vergleichbare Verausgabung von Arbeitszeit überhaupt. Als abstrakte Arbeit ist sie die wertbildende Tätigkeit, die das schafft, was im Kapitalismus als Reichtum erscheint: Die „ungeheure Warensammlung“. Eine Ansammlung von verrichteter Arbeit.

Marx bestimmt also die Arbeit sowohl als gesellschaftliche Tätigkeitsform, als auch als zentrales Medium gesellschaftlicher Vermittlung im Kapitalismus. Das, was Gesellschaft im Kapitalismus konstituiert, die Warenform, ist bestimmt durch die Arbeit. Die Arbeiten, die im Kapitalismus verrichtet werden, sind daher nie allein für sich zu begreifen. Bereits bei der Produktion einer Ware kommt deren Tausch in Betracht – und damit auch die gesellschaftliche Durchschnittsarbeitszeit, die den Maßstab dafür bietet, inwieweit die Arbeit als eine gültige anerkannt wird. Die verschiedenen einzelnen Arbeiten sind also bereits bevor es zum Tausch kommt gesellschaftlich aufeinander bezogen.

Tätigkeiten können nur dann in die Warenproduktion integriert werden, wenn sie als Arbeit gelten können, die tauschbare Gebrauchswerte für andere herstellen kann. Daher rührt z.B. auch, dass reproduktive Tätigkeiten („Hausarbeit“) im Kapitalismus nie als gültige und wichtige Tätigkeiten anerkannt bzw. eben einfach ausgeblendet werden. Bekanntlich sind diese weiblich konnotiert. D.h. auch das Geschlechterverhältnis bekommt im Kapitalismus eine ganz neue Qualität.

Und andersrum kann man Teilhabe am Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft dann auch nur durch Arbeit (oder durch Aneignung von Arbeit anderer) erlangen.

4.2. Exkurs: Sozialistischer Arbeitszwang

Der Umstand, dass gesellschaftliche Teilhabe in der Warenproduktion durch Arbeit vermittelt ist, hat vor bei allem bei der Bedeutung, die der Arbeit beigemessen wird, in marxistischen Kapitalismuskritiken oft für Verdrehungen und zur Ideologisierung des kapitalistischen Leistungsprinzips geführt.

„Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ (August Bebel 1883 in "Die Frau und der Sozialismus")

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht Essen“ (Müntefering, 2006)

Während Bebel und verschiedene Varianten marxistischer Positionen ursprünglich noch versuchten, das repressive Prinzip der Gleichheit im Äquivalententausch gegen die Kapitalist_innen-Klasse zu wenden, die sich den Mehrwert (dazu kommen wir später) deswegen nicht aneignen sollen dürfe, weil sie nicht arbeite, zitiert Franz Müntefering ihn nur noch, um den sozialdemokratischen Sozialstaatsabbau unter Schröder zu legitmieren. Bei ihm richtet es sich gegen jene, die sich tatsächlich dem kapitalistischen Arbeitszwang entziehen wollen oder müssen und von ihm daher das Recht auf Überleben abgeprochen bekommen.

Dieser Satz wird zwar oft als marxistisches Programm verstanden, geht aber in keinster Weise auf Marx zurück. Im Gegenteil. Es ist ja längst die gängige Praxis im Kapitalismus, die nur durch sozialstaatliche Maßnahmen ein wenig kaschiert wird. Nicht zu beweisen, dass die Arbeiterklasse als diejenige, die die wertschaffende Arbeit verrichtet, die einzige ist, die ein Anrecht auf den gesellschaftlichen Reichtum hat, war Marx Anliegen. Sondern zu zeigen, dass der Wert eine historische Kategorie ist, die als Maßstab für abstrakten Reichtum nur im Kapitalismus gilt.

„In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden [..]. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert das Maß des Gebrauchswerts.“ (MEW42, S. 600f)

(Er meint hier mit „wirklichem Reichtum“ gerade nicht den wertförmigen Reichtum, wie er im Kapitalismus existiert und solange existieren muss, wie Warenproduktion herrscht, sondern die Menge an Gebrauchsgütern.)

Er möchte also ganz und gar nicht lediglich die Arbeit von deren „Ausbeutung“ im Kapitalismus befreien, sondern vielmehr den stofflichen Reichtum zum Wohle der freien Entfaltung des Individuums als den bewussten Zweck der Produktion einsetzen. Dies bedeutet aber gerade die Befreiung des Individuums von der Arbeit.

„Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für alle freigewordene Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.“ (MEW42, S. 601)

Das Leistungsprinzip, das in solchen Sätzen wie, „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ durchklingt, ist also keineswegs eine marx 'sche Utopie, sondern kann bereits auf dieser abstrakten Ebene als Ideologie beschrieben werden, die die Praxis der bürgerlichen Gerechtigkeit, eben die des Äquivalententauschs, in der Warenproduktion reflektiert.

5. Gesellschaftliche Herrschaft

Wir fassen das jetzt nochmal zusammen: Die Ware ist nach Marx Verständnis also nicht nur ein konkretes Ding, sondern zugleich auch allgemeine Form der Produkte im Kapitalismus. Ebenso ist die Arbeit sowohl konkrete Tätigkeit als auch wertbildende abstrakte Arbeit, die nur als Arbeitszeit erscheint. Und das sind keine anthropologischen Bestimmungen, sondern dies gilt nur dort, wo allgemein Warenproduktion herrscht. Sie sind die abstraktesten Bestimmungen, aus denen heraus er versucht konkretere Zusammenhänge im Kapitalismus zu erklären.

Marx beginnt bewusst „das Kapital“ zunächst mit der Analyse einer Gesellschaftsstruktur, die durch die Warenform bzw. die Arbeit bestimmt ist. Die Warenbesitzer_innen, also bewusst handelnde Menschen, führt er erst später ein. Diese aber nicht als bewusste Akteure, die diese Veranstaltung ausgeheckt hätten, um etwa sich selbst zu bereichern, sondern diese selbst als „ökonomische Charaktermasken“, die als Funktionsträger_innen der Logik erscheinen, die der Warenproduktion entspringt.

6. Fetischismus und Verdinglichung

Warum aber braucht es eine solche Theorie von der Warenproduktion? Was Marx versucht an der Ware zu bestimmen tut er mit dem Wissen darum, dass dies den meisten Menschen und der gesamten Wissenschaftler-Kaste der Politischen Ökonomen anders erscheint. Marx Kritik der Politischen Ökonomie ist jedoch nicht nur eine andere Herangehensweise, sondern versucht ebenfalls zu erklären, warum sich die Menschen im Kapitalismus notwendigerweise ein verkehrtes Bewusstsein von der Beschaffenheit ihrer Gesellschaft machen.

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis“ (MEW23, S. 86)

Dies nennt Marx den Waren-Fetischismus. Dass der Wert das Ergebnis einer gesellschaftlichen Praxis ist, ist den Menschen im Kapitalismus nicht unmittelbar ersichtlich. Dass die Waren einen Wert besitzen, erscheint ihnen als Natureigenschaft dieser Dinge. Und damit als ein Verhältnis zwischen Dingen, das außerhalb der menschlichen Gesellschaft, eben natürlich, existiert und daher auch unveränderlich erscheint.

„Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (MEW23, S.88)

Diesen Prozess, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, die sich als Warenproduzent_innen aufeinander beziehen, zu Verhältnissen von Dingen werden, kann man mit dem Begriff „Verdinglichung“ bezeichnen. Auch wenn Marx nicht müde wird, die falsche Interpretation der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaftler_innen zu kritisieren, die den Tauschwert immer als natürliche Größe zu bestimmen versuchten, so ist dies nicht nur als falsches Bewusstsein zu verstehen. In der Warenproduktion existieren diese Verhältnisse tatsächlich. Und jeder einzelne Mensch, der sich darin bewegt, selbst wenn er diese durchschaut, muss sich diesen Verhältnissen unterordnen. Das gilt übrigens sowohl für Arbeiter_innen, als auch für Kapitalist_innen und alle anderen. Diese Verhältnisse erscheinen also nicht nur als Natur-Gesetze, sondern, solange die bestimmende Form der Vergesellschaftung die der Warenform ist, müssen sie notwendigerweise wie solche wirken. Und das obwohl sie Ergebnis der kollektiven Praxis der Menschen im Kapitalismus sind. Der Umstand, dass diese Praxis unbewusst ist, und dennoch stattfindet, lässt sich eben aus dieser Fetischisierung der Verhältnisse erklären.

Die „Herrschaft“, die von dieser Struktur ausgeht, erklärt Marx im Kapital also nicht einfach aus einem Klassenverhältnis, das lediglich die feudale Stände-Gesellschaft abgelöst hätte, vielmehr als eine, die in der Form der Vergesellschaftung selbst angelegt ist. Marx Fetischismus-Kritik ist also eine Ideologie-Kritik, die nicht nur „falsches Bewusstsein“ kritisiert, sondern dieses aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, also aus der unbewussten Praxis der Menschen, zu erklären versucht. Diese Kritik erklärt zugleich, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder herstellen können, ohne dass es dazu ein bewusstes Subjekt geben muss.

Diese Verhältnisse entwickeln in der weiteren Analyse eine ganz eigene Dynamik, die sich entsprechend auch der unmittelbaren Kontrolle der Willen der einzelnen Akteure entzieht. Dazu mehr im nächsten Teil...


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Erschienen am: 26.08.2007 zuletzt aktualisiert: 02.09.2007 17:18