Teil Vier: Methode

Ein paar Worte zu den Grundannahmen, Fragestellungen und der Vorgehensweise von Marx. Diese bilden die häufig nicht sehr deutlich sichtbare Grundlage, auf der Marx seine späte kritische Theorie, die er selbst unter die Überschrift „Kritik der politischen Ökonomie“ gestellt hat, entwickeln konnte.

I. Grundannahmen:

Gesellschaft als Geflecht von Verhältnissen und Beziehungen

Eine ganz zentrale Grundannahme von Marx lag in seiner Betrachtung des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuen. Im Gegensatz zu den meisten gesellschaftstheoretischen Ansätzen damals wie heute, die sich bemühen, die Gesellschaft ausgehend von den Eigenschaften der Individuen zu erklären, hielt Marx diese Eigenschaften nicht allein für die Voraussetzung, sondern ebensosehr, wenn nicht mehr, für das Ergebnis des gesellschaftlichen Gefüges. Explizit hat Marx das nur in wenigen Nebenbemerkungen gesagt, so in den als „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ im Nachhinein veröffentlichten Manuskripten:

„Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.“ (MEW 42, S. 189)

Im Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes des Kapital erläutert er seine Sicht der persönlichen Verantwortung der Gesellschaftsmitglieder für den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang:

„Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ (MEW 23, S. 16)

Für Marx war Gesellschaft zwar konstituiert durch das kollektive Handeln der Menschen, also unser aller gesellschaftliche Praxis. Der Rahmen für diese gesellschaftliche Praxis, für unser Denken, Fühlen und Handeln ist aber seinerseits gesellschaftlich bestimmt, liegt in der „Summe der Beziehungen, Verhältnisse“ (s.o.), also der für das einzelne Individuum immer schon vorgefundenen gesellschaftlichen Realität.

Geschichtlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse

Für Marx waren gesellschaftliche Verhältnisse und Strukturen keine biologisch, göttlich oder sonstwie gegebene ewige Wahrheit, sondern für jede Gesellschaftsform historisch spezifisch. Daher waren sie auch für jede gesondert und nach ihrer jeweiligen Logik zu untersuchen, zu beschreiben und zu kritisieren. Mit seinen Schriften zur „Kritik der politischen Ökonomie“ hat Marx versucht, genau das für die geschichtlich einzigartige Periode des Kapitalismus zu leisten

Entnaturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse

In seinen Frühschriften hat Marx die gesellschaftliche Realität noch an einer überhistorischen Menschennatur, die er als „Gattungswesen“ des Menschen bezeichnet hat, gemessen. Daher sah er auch im Widerspruch zwischen diesen beiden und der sich daraus ergebenden „Entfremdung“ des Menschen von sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Arbeit den zentralen Kritikpunkt angelegt. Von diesen Begriffen ist in seinen späten Arbeiten praktisch keine Rede mehr. Im Gegenteil versucht Marx hier, die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft (inklusive ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses) aus der Darstellung ihrer strukturellen Funktionsweise selbst zu entwickeln.

Beim Lesen stolpert man ab und zu über Beschreibungen, die dem zu widersprechen scheinen, etwa wenn Marx von „naturwüchsigen“ gesellschaftlichen Verhältnissen spricht oder von den „Naturgesetzen“ der kapitalistischen Produktionsweise.

Marx scheint damit auf die Tatsache verweisen zu wollen, dass gesellschaftliche Entwicklung in der bisherigen Menschheitsgeschichte nicht bewusst von den Menschen gestaltet worden ist, sondern eher blinder Eigendynamik gesellschaftlicher Prozesse zuzuschreiben ist, die sich den Menschen als objektives, eben quasi naturgesetzliches Schicksal darstellt.

II) Fragestellungen

Herrschaft, Emanzipation

Die grundlegende Frage, der Marx Zeit seines Lebens nachgegangen ist, ist sicherlich die nach menschlicher Emanzipation, ihren Bedingungen, Hindernissen und ihrer Erreichbarkeit. Menschliche Emanzipation war für Marx nicht so sehr eine Zielvorstellung, sondern das, was Menschen entwickeln können, wenn sie die von Marx detailliert untersuchten Herrschaftsmechanismen der jetzigen und bisherigen Gesellschaft(en) zu überwinden beginnen.

In einer Schrift namens „Die Deutsche Ideologie“ schrieb Marx:

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt Bestehenden Voraussetzung.“ (MEW 3, S. 35)

Kommunismus also nicht als anzustrebender Zustand, sondern als Prozess der Emanzipation. Dieser ist laut Marx auch durch die erstmals bewusste Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse gekennzeichnet:

„Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.“ (MEW 3, S. 70)

Funktions- und Bewegungsgesetze bürgerlicher Gesellschaft

In der „Kritik der politischen Ökonomie“ - Phase, die die letzten gut 30 Jahre seines Leben umfasste, hat er sich vor allem der Frage gewidmet, wie die bürgerliche Gesellschaft strukturiert ist, welche die ihrer Dynamik zugrundeliegenden Prinzipien sind, was sich daraus über die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Gesellschaft für Schlüsse ziehen lassen.

Dabei stieß er auf die basalen Kategorien Ware, Wert, Arbeit und Kapital. Er entwickelte aus diesen Grundprinzipien nicht nur die Bewegungsgesetze des Kapitalismus, sondern spürte mit ihrer Hilfe auch innere Widersprüche auf, die sowohl die innere Dynamik als auch die Möglichkeit der grundsätzlichen Veränderung des Kapitalismus denkbar machen.

III) Methodik

Kritik durch Darstellung

Marx ' Methode ist untrennbar mit dem oben Gesagten über seine Grundannahmen und seine Fragestellungen verbunden: Durch die Analyse der historisch spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihre Darstellung hat Marx sowohl diese gesellschaftlichen Zusammenhänge als auch deren Reflexion in der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft (der „politischen Ökonomie“) kritisiert. Er selbst betrachtete diese Kritik in einem Brief als

„... das furchtbarste Missile, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist“ (MEW 31, S. 541),

war also der Meinung, dass die Darstellung und das Verstehen dessen, was tatsächlich die bürgerliche Gesellschaft ausmacht, diese Gesellschaft selbst gefährden und damit die Möglichkeit menschlicher Emanzipation öffnen könne.

Dialektik

„Dialektik“, von der unter Marxologen immer dann viel die Rede ist, wenn man andere beeindrucken will, ist bei Marx nicht eine Methode (oder gar eine spezielle Logik Marke „These – Antithese - Synthese“), die auf beliebige Probleme angewendet werden könnte, sondern das, was in der Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck kommt: eine in sich widersprüchliche Realität, die gerade durch diese Widersprüche einer ihr (und nur ihr) eigenen Dynamik unterliegt, aus der sich menschliches Leid, Verrücktheiten und Unfassbarkeiten ergeben, die es zu überwinden gilt.


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Erschienen am: 02.08.2007