Vom Ertrinken

'Die freie Gesellschaft ist schon da, wir müssen sie nur anders denken '

Antwort auf: „Lichtblick am halben Horizont“, GöDru Nr. 572

Wir freuen uns sehr, dass unser Selbstverständnis auch von anderen Gruppen diskutiert wird. Die Gedanken von Schöner Leben (SL) zu unser thesenhaften Bestimmung dessen, was wir unter 'Kapitalismus' und als Ziele unserer Gruppe verstehen, haben Missverständliches und zum Teil auch Kritisierenswertes an unserem Selbstverständnis benannt. Wir freuen uns darüber, dass in eine Debatte eingestiegen werden kann. Hiermit wollen wir auf einige Kritikpunkte eingehen und die Ausformulierung unserer Analyse an der Kritik weiter schärfen. Wenngleich eine Kritik an einer scheinradikalen, objektivistischen Auslegung der Wertkritik, die sich mit dem Verweis aufs Ganze von jedem sozialen Kampf zurückziehen zu können glaubt, durchaus auf der Tagesordnung stünde, hat sich gezeigt, dass ebenso sehr der den totalitären Charakter der Moderne relativierende Ansatz von SL einer grundlegenden Kritik unterzogen werden muss.

Böse, böse Großtheorie

Der erste und wohl wichtigste Kritikpunkt, der sich aus der Analyse von SL ergibt, ist das postmoderne Verbot sog. „Großtheorien“ heranzuziehen, um die moderne, kapitalistische Gesellschaft zu erklären. SL vollzieht in ihrer Argumentation nach, was schon einige nicht ganz unberechtigte postmoderne Kritiken am Marxismus vorgemacht hatten. Richtig war die Erkenntnis, dass z.B. diverse „Hauptwiderspruchs“-Ansätze totalisierende Tendenzen des Kapitalismus, die eigentlich von einer emanzipatorischen Kritik gerade abgelehnt werden müssten, in ihrer Theorie positiv reproduzieren. Doch wird nun jede Theorie, die auf das Ganze der Gesellschaft zu gehen versucht, als blind gegenüber Partikularem betrachtet. Es wurde und wird davon ausgegangen, dass eine „Großtheorie“ immer den selben Versuch unternimmt, Partikulares unter einen zentralen Begriff zu bringen, um es dann als bloßes Anhängsel der „eigentlichen“ sozialen Frage gar nicht erst genauer in den Blick nehmen zu müssen.

Psychologisierend erklärt sich SL dies aus einem wahrscheinlich aus der „Unüberschaubarkeit“ komplexer und vielfältiger gesellschaftlicher Verhältnisse resultierenden Bedürfnis nach Ordnung. Wie bereits die postmoderne Kritik das Kind mit dem Bade ausschüttete, als sie sich bei der Überwindung des Marxismus zugleich auch der Kritik der politischen Ökonomie entledigte, verkehren sich auch in der Analyse von SL Begriff und Gegenstand. Auch einer Kritik, die ein totalisierendes Verhältnis versucht negativ zu beschreiben, wird der Vorwurf gemacht, sie vollziehe die Subsumtion unter den einen Begriff.

Das hinter dieser Kritik stehende herrschaftskritische Utopie richtet sich gegen Vereinheitlichung und spricht sich für Vielfalt und die Akzeptanz von Pluralität aus. Das Individuelle soll vom konformisierenden Zwang befreit werden. Dieses begrüßenswerte Ziel verliert aber seine emanzipatorische Sprengkraft in dem Moment, in dem es einen Begriff von der kapitalistischen Gesellschaft aufgibt. SL muss die angestrebte Pluralität bereits im Hier und Jetzt behaupten, um die Überbringerin der schlechten Nachricht von den real existenten totalisierenden Tendenzen der Warenform für deren Inhalt verantwortlich zu machen. Kritisiert werden hier nicht mehr die Verhältnisse, die diesem utopischen Ziel im Wege stehen, sondern jene Kritik, die es mit diesen aufnehmen möchte.

Grenzen der Totalität – Grenzen des Partikularismus

Es ist unserer Meinung nach jedoch die Warengesellschaft selbst, die, metaphorisch gesprochen, als praktische, realabstrahierende „Großpraktikerin“ in der Kritik stehen müsste: Die in der Warenform angelegte Tendenz, möglichst alle gesellschaftlichen Bereiche in die Form der Ware zu pressen, möchte nicht dulden, was sich nicht dem Verwertungsimperativ unterwerfen lässt. Der Wert könnte in diesem Sinne als „Großpraxis“ beschrieben werden, die nur erkennen kann, was sie bereits vorher wusste. Diejenige Produktionsform, diejenigen Bedürfnisse, die nicht dem einen Imperativ der Wertverwertung gerecht werden können, besitzen in dieser kapitalistischen Praxis keine Gültigkeit. Sie werden entweder negiert oder ausgeblendet. Es existiert kein „Begriff“ in der „Großpraxis“ des Werts für das, was sich nicht unmittelbar in die selbstzweckhafte Bewegung des Wertes einspannen lässt.

Diese Tendenz gilt es unserer Meinung nach negativ zu beschreiben und zu kritisieren, ohne diese dabei unhinterfragt beim Wort zu nehmen oder selbst als positiven Maßstab zu setzen. Das haben wir in unserem Selbstverständnis versucht.

Dass wir hier von Tendenz sprechen, verweist bereits auf gewisse Grenzen. Wir wollen dies an moderner patriarchaler Herrschaft verdeutlichen. Der „Anspruch“ der Warenform, der sich nur aus der Analyse der (unbewussten) Praxis in der Warenproduktion erklären lässt, ist zwar ein totalitärer, er scheitert jedoch an seinen eigenen Voraussetzungen. Es gab in der Geschichte des Kapitalismus immer Bereiche, die sich dem Zugriff der Warenform verweigert haben und dieses auch müssen. Was Roswitha Scholz als „blinden Fleck“ des Werts, als dessen Abspaltung beschreibt, war von Anbeginn die Voraussetzung dafür, dass Wertverwertung überhaupt stattfinden konnte. Während in der kapitalistischen Produktion Arbeit zum Zwecke der Wertverwertung verausgabt wurde, brauchte es immer auch einen privaten, reproduktiven Bereich, der geschichtlich weiblich besetzt und damit weitestgehend an Frauen delegiert war. So konnte die Lebensfähigkeit der kapitalistisch Produzierenden überhaupt erst hergestellt werden. Geschlechtlich besetzt, und als „eigentlich nicht dazugehörig“ wurde dieser Teil moderner Herrschaft, die eine patriarchale ist, schlicht ausgeblendet. Nicht erst die Ausblendung dieses Zusammenhangs aus dem öffentlichen Bewusstsein spricht Bände über die patriarchale Komponente, die mit dieser Wert-Abspaltung einhergeht.

Diese „Reproduktionssphäre“ ist und kann bis zu einem gewissen Grad nicht nach der Logik der Warenproduktion organisiert werden. Daher kann übrigens das moderne Patriarchat, das sich an dieser Trennung von öffentlicher und privater Sphäre entlang gebildet hat, auch nicht einfach mit den Begriffen der Kritik der politischen Ökonomie beschrieben werden. Ebenso bleibt festzuhalten, dass dies Geschlechterverhältnis nicht einfach als „Funktion“ der Wertvergesellschaftung behandelt werden kann, sondern obgleich es in der bestehenden Form nur bezogen auf das Ganze verstanden werden kann, eine ganz eigene Dynamik, eigene Logiken besitzt und auch spezifische Praxis verlangt, um überwunden zu werden.

Es gilt zu den Grenzen einer Kritik, die es noch wagt die Gesellschaft als negatives Ganzes zu denken, noch einmal festzuhalten, dass es nicht darum gehen kann, jedes konkrete Partikulare aus den abstrakten Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft als Nebenprodukt abzuleiten. Im Gegenteil gehört die „großpraktische“ Ausklammerung eines wesentliches Teils aus dem Ganzen einer Kritik unterzogen. Diese lässt sich jedoch nur vor dem Hintergrund der totalisierenden Dynamik der Warenform erklären.

Der Kapitalismus ist zwar eine totalisierende Struktur, das bedeutet jedoch nicht, dass sich alles aus dem Begriff des „automatischen Subjekts“ determinieren würde, was darin vor sich geht. Dem Handeln der einzelnen Menschen wie auch der Dynamik von Ideologie oder einzelnen gesellschaftlichen Institutionen kommen Eigenständigkeiten zu, denen mit einem je spezifischen Verständnis ihrer Logiken beizukommen ist, die jedoch gleichermaßen nur vollständig verstanden werden können, wenn sie mit dem Ganzen, womit sie notwendig verschmolzen sind, aber durchaus auch in Widerspruch treten können, zusammen gedacht werden.1 Nicht mehr und nicht weniger versucht ein negativer Begriff von der Gesellschaft als Ganzer zu leisten und zu kritisieren.

Und dabei hilft es auch nicht, wie SL in ihrem Text, festzustellen, dass es bestimmte Herrschaftsverhältnisse bereits vor dem Kapitalismus gab. Patriarchale Herrschaft z.B. ist keine Erfindung der Warengesellschaft. Das moderne Patriarchat sowie die moderne Zweigeschlechtlichkeit sind aber sehr wohl historisch neue Formen vergeschlechtlichter Herrschaft. Erst mit der Herausbildung einer dichotomen gesellschaftlichen Organisation von Privatheit und Öffentlichkeit, von einem spezifischen instrumentellen Bezug zur stofflichen „Natur“ und der darin enthaltenen Subjekt/Objekt, Kultur/Natur-Dichotomie hat sich das Patriarchat in der Form herausgebildet, in der wir es heute kennen: Als modernes Patriarchat, dass sowohl „Henne“ als auch „Ei“ der Warenproduktion darstellt.

Das kann in der Tat nicht einfach im luftleeren Raum aus der Dialektik der Warenform deduziert werden, aber ebensowenig aus einer vermeintlichen Kontinuität transhistorischer Herrschaftsformen. Es bräuchte vielmehr einen historischen Begriff davon, wie es mit der Warenproduktion vermittelt ist und unter welchen historischen Vorzeichen es sich in seiner konkreten Ausformungen herausgebildet hat.

Was SL nicht zusammen denken möchte, ist, dass verschieden Herrschaftsverhältnisse sowohl auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen als auch in ihrer konkreten Ausformung eigenständig und damit auch ohne den „großen Wurf“ veränderlich sein können. Das Selbstverständnis von 180° wird jedoch mit einer „Brille“ des falschen und ausschließenden Gegensatzes zwischen begriffslosem Herangehen an das Unmittelbare, Partikulare und einem deterministischen Strukturalismus gelesen. Da eine „theoriebasierte Praxis“ (SL) offensichtlich nicht denkbar scheint, verortet sich SL in diesem Text auf der Seite der unmittelbaren, theorielosen Praxis, oder zumindest einer „Praxis trotz Theorie“, um 180° den Gegenpol in die Schuhe zu schieben. Die Gruppe SL offenbart sich damit im Überlesen unseres Versuches, es mit der Dialektik von Partikularismus und Universalismus in der Wert-Abspaltungs-Gesellschaft aufzunehmen, als das partikularistische Gegenstück zu jener universalisierender „Großtheorie“, die sie so vehement abzulehnen versucht.2

Das Konkrete ist nicht Konkret

Schöner Leben stört sich am Begriff der Totalität in unserer Konzeption von Herrschaft. Dadurch würden Herrschafts- und Unterdrückungsformen hierarchisiert und könnten nicht mehr in ihrer Eigenständigkeit analysiert werden. Diese Form von Herrschaftskritik verwechselt regelmäßig Addition mit analytischer Schärfe. Bestand die analytische Innovation der sog. Tripple Oppression darin, zur Klassenherrschaft noch das Patriarchat und den Rassismus hinzu zu addieren, hat es die Multioppression zu dem analytischen Tiefgang gebracht, noch so viele Herrschaftsverhältnisse hinzuzufügen, wie das gruppeninterne Brainstorming her gibt.3 SL bleibt dafür noch vergleichsweise puristisch: „Patriarchat, Sexismus, Antisemitismus und Rassismus“ führen sie ins Feld. „Es lässt sich beschreiben“ - so SL weiter – dass diese auch „schon vor dem Kapitalismus bestanden haben“. An dieser willkürlichen Aufzählung lässt sich zeigen, dass SL an seinem Ziel, Herrschaftsformen möglichst präzise und konkret beschreiben zu können, indem sie als eigenständiges „Phänomen“ isoliert werden, notwendig scheitern muss. Dadurch gehen ihnen die Bestimmungen, die Herrschaft erst konkret beschreibbar machen, verloren. Nehmen wir uns aus der Aufzählung den Antisemitismus heraus.4 Es habe ihn – so will es SL - schon vor der Entwicklung des Kapitalismus gegeben und folglich müsste er auch getrennt davon zu untersuchen sein, um natürlich im Nachhinein allerhand Verschlingungen, Verwobenheiten etc. zu betrachten.

Schon ein Blick auf das Wort verrät, dass diese Vorstellung schief ist. Antisemitismus ist ein Quellenbegriff, keine wissenschaftlich-analytische Abstraktion, als solche würde er gar keinen Sinn machen. Als politischer Kampfbegriff taucht er erst in den 1870er Jahren auf. Er markiert einen Wandel. Seine Legitimation bezieht er aus seinem dezidiert nichtreligiösen Pathos, mit dem er sich vom religiösen Judenhass abgrenzt. An die Stelle des „religiösen Vorurteils“ wollen seine Protagonisten die „wissenschaftliche Objektivität“ der Rassenkunde setzen. Statt Juden spricht man nun von Semiten (Das Wort bezeichnet eigentlich eine Sprachfamilie, zu der nicht nur das Hebräisch gehört). Die sprachwissenschaftliche Markierung von Fremdem und Eigenem geht auf die frühe kulturalistische Begründung des Nationalismus zurück. Schon in dem Begriff finden sich also genug Hinweise, die auf einen Bruch zwischen traditionellem christlichem Judenhass und modernem Antisemitismus verweisen.5

Noch weit vor einer Analyse über den Zusammenhang von Antisemitismus und Wertvergesellschaftung gibt es in der Literatur über Antisemitismus eine breite Einigkeit in der Frage der Motive des Antisemitismus. Die Juden werden mit der Zirkulationssphäre, den Börsen oder der zersetzenden Wirkung des Geldes identifiziert. Sie seien die „nationenlose Nation“, die sich in den angeblich homogenen Nationen eingenistet hat und sie von innen zersetzt. Sie trügen die Verantwortung für die Anonymisierung im Zuge der Industrialisierung; für die Zersetzung ursprünglicher Gemeinschaften und für eine materialistische Kultur, in der „autochtone“ Werte entwertet würden. Kurzum: Sie werden identifiziert mit der Modernisierung oder - wie Postone einschränkend feststellt – mit bestimmten Aspekten der Modernisierung. Der Hass richtet sich auf sie als die angeblichen Repräsentanten dieses Prozesses. Dieser kurze Blick auf die Motive des Antisemitismus erhellt eine Selbstverständlichkeit: Der Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Phänomen und kann auch nur mit einer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden, in denen er – sagen wir es vorsichtig – situiert ist. Die Vorstellung von der „nationenlosen Nation“ lebt von der Vorstellung der kulturell und politisch homogenen Nation – ein modernes Konzept. Die Zurückführung von Finanzkrisen und den damit einher gehenden gesellschaftlichen Verwerfungen auf die Machenschaften der Juden braucht als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung zunächst einmal Finanzkrisen mit den entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen. Noch bevor wir also über eine spezifische Analyse diskutieren, wie z.B. die Postone'sche Herleitung des Antisemitismus aus einer fetischisierten Kapitalismuskritik6, ist der Antisemitismus seiner Dynamik, seiner Funktionsweise und seinen Motiven nach nur in seiner gesellschaftlichen Vermittlung verstehbar. Damit bleibt nicht viel mehr als der Name vom Antisemitismus, der angeblich schon vor dem Kapitalismus „bestanden“ hat und von dem nun zu fragen wäre, ob er sich in den Kapitalismus „eingenistet“ hat, oder ob er vom Kapitalismus „vereinnahmt und aufgesogen“ wurde.

Es stellt sich heraus, dass SL das Gegenteil von dem gelingt, was ihr Programm ist. Statt eine „Herrschaftsform“ konkret in den Blick zu nehmen, zerrinnt sie ihnen in den Fingern. Wo SL glaubt eine „soziale Tatsache“ fest in den Händen zu halten, fixiert sie doch nur einen Namen ohne Bedeutung. Das einzige, was ihnen von ihrem vermeintlich so greifbaren Phänomen bleibt, ist eine dürre Abstraktion: „Judenhass“, „Ablehnung von Juden“, „Vorurteil“, als wie auch immer in die Welt gekommener Kern des Antisemitismus, der sich historisch verschiedene Ausdrucksformen schafft. Wenn wir es so dünn machen, können wir jedoch allgemein fragen, ob mit dem analytischen Instrumentarium der Herrschaftskritik so etwas wie Kapitalismus überhaupt existiert. Schließlich hat es auch vor 500 Jahren schon Klassen gegeben, die ihre Herrschaft zur Aneignung des Mehrproduktes anderer Klassen verwendet haben. Wurde auch dieses Herrschaftsverhältnis nur „aufgesogen“, oder hat es sich „eingenistet“ und wenn ja, wovon oder worin?

Die Beschreibungen verlieren also dort, wo sie der Sache gerecht werden sollen, ihren analytischen Gehalt. Geeignet vielleicht für die Erstellung von Fragebögen für Infratest Dimap, nicht aber für eine kritische Durchdringung des Gegenstandes. Gerade wo sie dem Gegenstand gerecht werden wollen, weil sie ihn „an sich“ und ganz unabgeleitet betrachten, bleibt von ihm nichts übrig als ein schale Anrufung. Denn das Konkrete ist nicht das unmittelbar Vorgefundene. Das Konkrete ist die Zusammenfassung der Gesamtheit seiner Bestimmungen. Diese Bestimmungen aber sind wesentlich gesellschaftlich. Das Konkrete ist also die Darstellung des Gegenstandes in seiner gesellschaftlichen Vermittlung. SL jedoch hat den Begriff der Gesellschaft unter der Hand bereits entsorgt. Was es gibt, sind einzelne Phänomene, „Herrschaftsformen“, vielleicht noch Strukturen, die zufällig miteinander „verwoben“ sind. Ohne den Begriff der Totalität gelingt jedoch unter kapitalistischen Bedingungen jene Vermittlung nicht, die einen Gegenstand erst zu einem historisch bestimmten werden lässt. Wo SL also historisch konkret werden will, werden sie abstrakt. Sie versuchen das unmögliche: einen Gegenstand isoliert, also „an sich“, in den Blick zu nehmen. Weil auf die Konzeption einer historisch bestimmten Totalität verzichtet wird, bleibt allein das „Sosein“ des einzelnen Gegenstandes. Was bleibt sind Banalitäten. Ja, es hat Pogrome gegen Juden im Mittelalter gegeben und sogar in der Antike. Und die Frage, warum es ausgerechnet die Juden waren, an die sich die Identifikation mit der Zirkulationssphäre heftete, ist nur aus der besonderen Geschichte der Juden in den abendländischen Gesellschaften zu erklären, nicht aus gesellschaftlichen Allgemeinbegriffen wie dem des Werts oder des Kapitals. Es sind diese Banalitäten, die SL mobilisiert, um sich einer historisch spezifische Analyse zu entziehen. Da kein Begriff von der historischen Bestimmtheit gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt gewonnen werden soll, bleibt allein das zurück, was sie uns vorwerfen: Bestimmungen, die dem Gegenstand nicht gerecht werden. Namen ohne Geltung. Je konkreter die Analyse wird, desto mehr gesellschaftlich bestimmte Begriffe muss auch SL sich wieder ins Boot holen, und damit eben die gefürchtete Reflexion der gesellschaftlichen Totalität, der sie sich doch gerade entziehen möchten. Wo sie Herrschaft nur beim Namen rufen, lässt sich die Methode der Herrschaftskritik durchhalten, wo ihr wirklich analytisch auf die Pelle gerückt werden soll, verliert sich schnell der Glanz des durch keine Totalität getrübten Blickes in begrifflichen Allgemeinheiten.

Krise und Praxis

Zum Krisenbegriff gibt es wie im Selbstverständnis beschrieben unterschiedliche Positionen innerhalb unserer Gruppe. Dazu, ob es so etwas wie eine „finale Krise“ gibt, oder der Kapitalismus sich durch jede „zyklische Krise“ hindurch erneuern kann, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Einigkeit herrscht jedoch sowohl darüber, dass dem Kapitalismus objektiv Krisen immanent sind, d.h. notwendigerweise die Dynamik des Kapitalverhältnisses sich selbst immer wieder in wenigstens zyklisch auftretende Verwertungskrisen stürzt, als auch, dass das Kapitalverhältnis sich im Moment in einer solchen Verwertungskrise befindet. Diese muss jedoch von den an dieser absurden Veranstaltung beteiligten Menschen nicht subjektiv als solche wahrgenommen werden. Dass auch ein Kapitalismus, der gerade floriert, für die Menschen nichts Gutes bedeutet, ist dabei ebenso unstrittig.

Wir wollen daher an dieser Stelle keine Krisentheorie begründen, sondern ein paar allgemeine Anmerkungen zu der Einschätzung von SL geben, dass es auf eine Krisentheorie welcher Art auch immer in der Praxis auch nicht wirklich ankäme, da es auch ohne Krise für die Menschen schon schlimm genug sei. Hier wurde unser Satz davon, dass es für die Menschen mit Sicherheit nicht besser wird, sagen wir mal, tendenziell eher reduziert ausgelegt. Denn relevant ist die Frage, ob wir uns in einer Krise befinden und welcher Art diese ist, für die Praxis auf verschiedenen Ebenen – nicht nur der des unmittelbaren Argumentierens mit der_dem Bürger_in in der Innenstadt.

Einerseits erklärt SL, dass „erst durch die Erkenntnisse der gesellschaftlichen Zusammenhänge und den Widerstreit verschiedener theoretischer Zugänge bei der Interpretation dieser Zusammenhänge [..] es ja möglich [wird], reflektiert und gezielt, und damit i.e.S. politisch zu handeln“. Andererseits scheint dies für SL für die Frage nach dem Zustand das Kapitalverhältnisses nicht mehr zu gelten. SL argumentiert, dass es einer Krisentheorie nicht bedarf, da für die Menschen auch so subjektiv „viel zu vieles jetzt schon nicht gut ist“. Hier kommt es SL nur darauf an, dass die Menschen sich vom Kapitalismus betroffen fühlen und ihn überwinden möchten.

Was SL hier wiederum für unnötig erklärt, ist eine angemessene Diagnose der vorliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Hier wird jedes „reflektierte und gezielte [..] politische Handeln“ wieder kassiert und allein am subjektiven Bewusstsein ausgerichtet. Entweder stellt also der Aufruf zum reflektierten Handeln nur eine nicht weiter durchdachte allgemeine Floskel dar, die das Handeln nicht der Beliebigkeit allzu verdächtig machen soll, oder aber SL geht davon aus, dass es nur einen ganz allgemeinen und abstrakten Begriff von der bürgerlichen Gesellschaft braucht. Dies wäre aber in der Tat eine zutiefst strukturalistische Sichtweise, die Herrschaft als statischen Zustand versteht und keine historischen Veränderungen denken kann.

Moderne Herrschaft und die Bewegung der Warenproduktion im Besonderen sind aber nur prozesshaft zu begreifen. Sie muss sich ständig erneuern und verändern. Daher gehen wir davon aus, dass eine transformatorische Praxis, die über die bürgerliche Gesellschaft hinauskommen möchte, dies nur erreichen kann, wenn sie sich auch einen angemessenen Begriff ihrer und ihres historischen Zustandes macht. D.h., dass für eine Praxis sowohl entscheidend ist, wovon diese Praxis überhaupt ausgeht und worauf sie von da aus zielen möchte, als selbstverständlich auch, was dieser Zustand für die Menschen bedeutet, wie sie diesen wahrnehmen und wie sie daher ihre eigenen Interessen darin formulieren und gegen diesen umsetzen können.

SL fällt, obwohl stets der transformatische Charakter eines Emanzipationsprozesses hervorgehoben wird, in den Dualismus von Reform und Revolution zurück, indem die Krisentheorie nur als „besseres Argument“ gedacht wird, um die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs zu begründen. Es besteht jedoch darin mit uns Einigkeit, dass es keine Krise braucht, um den Kapitalismus zu delegitimieren. Aber auch eine transformatorische Praxis ist eine prozesshafte. Und zwar eine, die nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern die von dem ausgehen muss, was sie vorfindet. Dieses kann dafür einen Anhaltspunkt bieten, welche sozialen Konflikte sich entzünden und durch welche Kämpfe hindurch radikaler Wandel sich entfalten kann.

Subjektive Erfahrungen7 von Krisen und dabei zu Tage tretende Widersprüche, die die Sinnhaftigkeit der ganzen Veranstaltung in Frage stellen, könnten Anknüpfungspunkte für eine Intervention radikaler Kritik bieten. Wenn z.B. der Widerspruch zwischen stofflichem und wertförmigem Reichtum daran deutlich wird, dass trotz steigender Produktivkräfte die Gürtel immer enger geschnallt werden müssen, bietet dies einen Ansatzpunkt zur Entnaturalisierung der Warenform.

Gleichermaßen kann eine ideologiekritische Intervention in soziale Proteste durchaus unterschiedliche Formen annehmen, wenn im Diskurs ideologisierte Krisenverarbeitung stattfindet, die reaktionäre Momente in sich trägt und den gesellschaftlichen Zusammenhang verschleiert. Wenn also beispielsweise fetischisierte Erklärungsmuster den oben beschriebenen Widerspruch ideologisch zu lösen versuchen, indem „amerikanische Heuschrecken“, „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „Sozialschmarotzer“ für den Niedergang des „Wirtschaftswachstums“ verantwortlich gemacht werden, erfordert dies eine angemessene Intervention. Subjektivität in diesem Sinne ist aber nur verstehbar, wenn sich das Auge auch auf die Umstände richtet, in denen sie entsteht. Krisentheorie kann ein Bestandteil einer Analyse sein, die Ideologien einzuschätzen und Verortungen und Brennpunkte anzugeben vermag, die Intervention notwendig machen.

Ein Ansatz wie der von SL jedoch, der Ideologie als transhistorische Herrschaftsformen nicht angemessen auf historische Entwicklungen beziehen möchte, kann bloß allgemein auf vereinzelt gedachte Ideologie-Gebäude reagieren, als wären sie immer und zu jeder Zeit die gleichen. Dass aber in bestimmten historischen Situationen bestimmte Ideologiefragmente auf dem Plan stehen, kann SL nur reaktiv beantworten und bestenfalls als in keinster Weise antizipierbare Zufälligkeit behandeln.

Mehr Keimformen!

Eine aus unserer Sicht tatsächliche Schwäche, die die Kritik von SL an unserem Selbstverständnis aufzeigen konnte, ist die, dass es so scheint, als wäre der transformatorische Punkt des „revolutionärem Dreiecks“ letztlich doch wieder „nur“ darauf beschränkt, die Warenform zu überwinden. Die Bedeutung von Keimformen für andere Momente moderner Herrschaft haben wir nicht benannt.

Beim Formulieren eines Beispiels für das, was wir uns unter transformatischer Praxis vorstellen, haben wir dabei das Argumentationsmuster von SL selbst, das das Konzept der Nutzer_innen-Gemeinschaften als Paradebeispiel für Keimformen anführt, übernommen. Selbstverständlich braucht es Keimformen, die es mit verschiedenen Formen von Herrschaft und Ideologie, durch die die moderne warenförmige, patriarchale, rassistische, antisemitische, sexistische usw. Gesellschaft und das dazugehörige Subjekt strukturiert sind, aufnehmen.

Einen weiteren Aspekt neben der Überwindung der Warenform haben wir implizit bereits benannt: Durch den Abbau und die Reflektion von Hierarchien innerhalb der Gruppe versuchen wir auch subtile Formen von Herrschaftsmechanismen anzugehen. Diese sind ja auch gerade Teil sexistischer, rassistischer und autoritärer Konstitution des bürgerlichen Subjekts, das wir zu überwinden anstreben. Dies muss auch immer ein zentraler Bestandteil keimförmiger Praxis sein.

Ein weiteres Beispiel. Das moderne Geschlechterverhältnis etwa kann durch eine „queerfeministische“ Praxis, die auch die praktische Reflektion von romantischer Zweierbeziehung (RZB), Zwangsheterosexualität, Zweigeschlechtlichkeit und patriarchaler Hierarchie aufnimmt, angegangen werden. Auch dies würden wir als nicht von andern Herrschaftsmechanismen trennbar verstehen, gegen die in keimförmiger Praxis Ansätze eines anderen Zusammenlebens entwickelt werden können. Entscheidend ist für uns, dass die Verstricktheit des Individuums in Herrschaftsverhältnisse dabei reflektiert wird, ohne in selbsttherapeutischem Rückzug den Blick auf die Gesellschaftlichkeit dieser Verhältnisse zu verlieren.

Eine Aufzählung von keimformartigen Praxen ließe sich sicherlich noch um einiges weiter treiben. Die Frage von SL, ob unsere transformatorische Praxis auf die Warenform beschränkt bleiben soll, ist aber hoffentlich damit beantwortet.

Widersprüchlichkeit und Subjektivität

SL missinterpretiert unseren Versuch, den Kapitalismus als gebrochene Totalität zu begreifen, als ein Projekt, um Widersprüche zu glätten. Ganz im Gegenteil geht ein Begriff von der kapitalistischen Gesellschaft als gebrochener Totalität keinesfalls von einem widerspruchsfreien System aus, in dem sich das Eine bruchlos ins Andere fügt. Vielmehr rekurriert dieser gerade auf diese immanente Widersprüchlichkeit, die z.B. in abstraktester Form bereits im Doppelcharakter der Ware bzw. der Arbeit im Kapitalismus angelegt ist, um die prozesshafte Dynamik des Kapitalverhältnis zu erklären.

Eben darum kann es sehr wohl sein, dass, wie SL sehr richtig anmerkt, Ideologien oder bestimme gesellschaftliche Institutionen dysfunktional für den Kapitalismus selbst werden können und eventuell entsprechend Konflikte und Veränderungen hervorrufen. Nach dem Modell von SL kann jedoch nicht aufs Ganze bezogen sein, was zu diesem in Widerspruch treten kann. Dass etwa das Patriarchat nicht notwendigerweise in die warenproduzierende Gesellschaft (Kapitalismus) eingebettet ist, wird damit begründet, „dass das Patriarchat für die Entfaltung der Produktivkräfte durchaus dysfunktional sein kann.“. Für SL folgt daraus, dass das Patriarchat eine abgeschlossene, identische Einheit darstellt, die sich seit dem ersten Auftreten vergeschlechtlichter Herrschaft bis heute mehr oder weniger ungebrochen durch die Geschichte zieht, und nachträglich, nachdem es analytisch mit sich selbst identisch gemacht ist, sich mit anderen Herrschaftsverhältnissen „verwebt“. Es kann also für sich genommen werden, aus sich selbst erklärt und anschließend in einen Zusammenhang mit anderen gebracht werden.

Mit diesem Ansatz, wäre z.B. auch folgende Absurdität argumentierbar: Gewalt in der Ehe kann seit einigen Jahrzehnten zur Scheidung führen. Da eine Scheidung aber dysfunktional für den patriarchalen Machtanspruch des Mannes ist, ist Gewalt in der Ehe äußerst dysfunktional für das heutige Patriarchat. Ergo kann diese Gewalt kein Moment des Patriarchats mehr sein, sondern steht für sich. Es kann im besten Falle historisch zufällig mit dem Patriarchat „verwoben“ sein. Die Absurdität springt ins Auge. Dysfunktionalitäten sind jedoch keine gesondert zu behandelnden Gegensätze, sondern notwendige Bewegungsmomente widersprüchlicher Herrschaftsverhältnisse.

Die Widersprüchlichkeit ist nicht nur in abstrakten Strukturen zu suchen, sondern zieht sich durch die Subjekte hindurch. So kann ein Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft in dem einen Moment davon ausgehen, völlig frei in seiner Individualität und der Gestaltung seiner gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein, und im nächsten Moment behaupten, der Lauf der Dinge sei von etwas Höherem, sei es durch „Gene“, die „Natur des Menschen“ oder die „Naturgesetze“ der Ökonomie determiniert. Beides sind Verarbeitungen wirklicher Erfahrungen, die nicht nur widersprüchlich gedacht, sondern in einer widersprüchlichen Gesellschaft real paradox sind. Gerade das Paradoxe an diesen Erfahrungen ist es, was immer wieder die Möglichkeit der Kritik hervorbringt. An dieser Stelle wird es interessant für eine Kritik, die auf radikalen Wandel aus ist: Gerade dort, wo Widersprüche offen zu Tage treten, gilt es sie nicht zu glätten, sondern zuzuspitzen. Subjektivität, die diese Widersprüche erfährt, gilt es mit der Nase genau darauf zu stoßen, um einen Blick zu ermöglichen, der über die Beschränktheit des Bestehenden hinausweist. Oder, um es mit den Worten des SL-Textes zu sagen, es gilt den „Alltagsblick“ an den Widersprüchen zu einen Blick zu schärfen, der durch diese hindurch über den „halben Horizont“ hinaus zu blicken vermag.

...radikale Kritik

Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass wir davon ausgehen, in einer Gesellschaft zu leben, deren Struktur totalisierende Tendenzen aufweist, die auch auf der abstraktesten Ebene beschrieben werden müssen, da sie der Form nach sich auf dieser konstituieren. Es reicht daher nicht aus, diese Gesellschaft lediglich pluraler und zusammenhangsloser zu denken, als sie ist. Das wäre kruder Idealismus.

Diese abstrakte Herrschaft ist jedoch nicht von oben bis unten systematisch und bruchlos durch-determiniert. Es ergeben sich zum einen gerade durch die spezifische Struktur dieser Herrschaft immer wieder Widersprüche, an denen die Kritik sich entfalten kann. Zum anderen besitzen verschiedene im Ganzen eingebettete Herrschaftsverhältnisse diesem gegenüber eine Eigenständigkeit. Sie lassen sich nicht daraus ableiten, müssen aber stets darauf bezogen werden. Diese beinhaltet auch Spielräume und die Möglichkeit der Veränderung, die es im Bestehenden nach besten Mitteln zu erkämpfen gilt. Eine Praxis, die die Form moderner Herrschaft ernst nimmt, muss realistischerweise jedoch einsehen, dass die Emanzipation von den herrschenden Verhältnissen auf einen radikalen Bruch mit der Form der Vergesellschaftung, die die bürgerliche Gesellschaft darstellt, notwendig macht.

Dieses Projekt wollen wir realistisch angehen. Wir wollen auch die Kritik am großen Begriff um 180° drehen und sie von ihrem idealistischen Kopf auf seine praktischen Füße stellen. Wer den Zwang der Totalität allein durch dessen Leugnung aufheben will, erinnert tragisch an den wackren Mann aus Marxens Vorrede zur „Deutschen Ideologie“, der die Schwerkraft dadurch überwinden wollte, dass er sie sich aus dem Kopf schlüge und damit über die Gefahr zu Ertrinken sich erhaben glaubte. Wer also das schöne Leben will, sollte sich gegen die bestehende Realität wenden, anstatt sich gedanklich nur im Kreise zu drehen.

Solidarische Grüße,

Gruppe 180° - Fuer Einen Neuen Realismus


1) Das gilt nicht allgemein, sondern nur spezifisch für die kapitalistische Gesellschaft, die so strukturiert ist, dass selbst das auf den ersten Blick konkreteste, unabhängigste, partikulare noch vom Abstrakt-Allgemeinen der gesellschaftlichen Form durchzogen ist. Das ist nicht toll, aber deswegen kritisieren wir es ja.

2) Wenngleich festzuhalten ist, dass auch in der Kritik von SL sich andeutet, dass ohne einen Begriff von der Struktur kapitalistischer Vergesellschaftung ein Überwinden der lediglich als irgendwie ineinander verwoben verstandenen einzelnen Herrschaftsverhältnisse nicht zu machen ist.

3) Hintergrund ist die Auseinandersetzung der Tripple Opression mit der Rede von Haupt- und Nebenwidersprüchen, und auf der Ebene der Praxis hatte diese Intervention zu ihrer Zeit auch ihre Berechtigung. An der heutigen Debatte zielt sie jedoch vollständig vorbei, da aus dem Begriff der kapitalistischen Totalität kein Hierarchisierung von Praxisfeldern oder Formen hervorgeht. Deutlichstes Beispiel hierfür dürfte wohl die Debatte um die sog. Antideutschen sein, die aus der „Ableitung“ des Antisemitismus aus spezifisch-kapitalistischen Denkformen nicht, wie SL es unterschiebt, eine Priorität im Kampf gegen den Kapitalismus ableiten, sondern im Gegenteil die Möglichkeiten antikapitalistischer Praxis ausgesprochen restriktiv bestimmen. Entscheidend bleibt also die spezifische Analyse und nicht eine ominöse Hierarchisierung durch Ableitung.

4) Im Folgenden geht es nicht um eine erschöpfende Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Wir greifen lediglich einige Aspekte heraus, an denen die Widersprüchlichkeit der herrschaftskritischen Herangehensweise deutlich wird.

5) Gern wird mit dem Argument, dass auch die Araber zur Sprachfamilie der Semiten gehören erklärt, dass es keinen arabischen Antisemitismus geben kann. Diese „Argumentation“ verkennt den historischen Ursprung des Begriffs, den seine Urheber eben im Kampf gegen „die Juden“ geprägt haben, sehr unbekümmert um philologische Feinheiten.

6) Dies sei all jenen ins Stammbuch geschrieben, die sich so gern auf Postone beziehen ohne ihn präzise zu referieren: Postone spricht von fetischisiertem Antikapitalismus, nicht einfach von personalisierendem. Er verfolgt die falsche Trennung von Gebrauchswert und Tauschwert – von abstrakt und konkret – in seiner ideologiekritischen Untersuchung, nicht einfach eine Personifizierung subjektloser Vorgänge.

7) Das Subjekt, das bei SL einfach vorausgesetzt und damit nicht weiter Gegenstand der Analyse ist, wäre selbst jedoch überhaupt erst einmal historisch zu erklären, bevor es daran gehen kann, verschiedene Subjektivitäten anzuagitieren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse treten nicht einfach äußerlich an das Subjekt heran, sondern existieren erst durch dieses hindurch. Wenngleich die Bewegung des Kapitalverhältnisses als ein scheinbar äußerliches sich der unmittelbaren Kontrolle der Menschen entzieht, geht dieses Verhältnis nicht im einfachen Gegensatz von „Struktur“ und „Subjekt“ auf. Es ist zwar ein entfremdeter, automatisch und unkontrolliert ablaufender Prozess, aber selbst erst Produkt der (unbewussten) Praxis der warentauschenden und Wert verwertenden Menschen. Das moderne Subjekt entsteht erst innerhalb dieses Prozesses und hat im Kapitalismus die gesellschaftliche Objektivität bereits als stumme Voraussetzung und kann daher nicht einfach neutral oder positiv angerufen werden.


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Erschienen am: 10.10.2007 zuletzt aktualisiert: 21.10.2007 16:01 AutorIn: email-address