180°:

Wer bin ich - und wenn ja warum?

Das Leiden des modernen Individuums


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Wir leben in einer individualistischen Gesellschaft. Das merken wir schon allein daran, dass die gesellschaftlichen Anforderungen an uns als Einzelne gerichtet sind. Ich soll einen guten Abschluss machen, ich soll eine Arbeit finden, ich soll meine Kinder erziehen, ich soll mich selbst verwirklichen. Werden wir diesen Anforderungen nicht gerecht, sind natürlich wieder wir selber dafür verantwortlich: Ich habe zu viel gefeiert, zu wenig gelernt, mich zu wenig diszipliniert, mich zu viel meine Bedürfnisse gekümmert.

Alle anderen erscheinen verstärkt als Hindernisse auf dem Weg der eigenen Selbstverwirklichung. Aber was ist dieses Selbst, dass sich da im Ökonomischen und Privaten verwirklichen soll eigentlich. Allein schon die Tatsache, dass alle die gleichen Mechanismen der Selbstdisziplinierung und -kontrolle anwenden und sich ihnen unterwerfen, macht stutzig. Was ist das für eine Form der Individualität, die in allen Individuen die gleichen Instanzen der Selbstkontrolle wirken lässt? Und warum erscheint uns der Zweck dieser Selbstkontrolle gleichzeitig von uns umgesetzt, aber so wenig von uns beeinflussbar? Wir alle müssen arbeiten oder wenigstens Arbeit simulieren. Sind wir wirklich so individuell, wie wir uns vorkommen, wo doch Individualität v.a. im Leben genormter Identitäten besteht?

Diese Widersprüchlichkeit von Autonomie und Unterwerfung unter fremdgesetzte Zwecke steckt in der besonderen Form moderner Individualität. Nicht zuletzt hat sich für diese der Begriff der Subjektivität eingebürgert, kommt doch das Wort Subjekt vom lateinischen subjectum – das Unterworfene. In unserer kleinen Veranstaltungsreihe wollen wir einen kritischen Blick auf das moderne Individuum werfen.

Im Eröffnugsvortrag untersucht Friederike Habermann am 24. Juni den Schnittpunkt individueller Autonomie einerseits und Fremdbestimmung der Einzelnen anderereits. Dieser Schnittpunkt ist die Identität. Identität kann nur durch Abgrenzung gewonnen werden und wird damit zugleich ein zentrales Moment, durch das sich Herrschaft in modernen Gesellschaften durchsetzt. Sie untersucht, wie auf den verschiedenen Herrschaftsebenen Kapitalismus, Sexismus und Rassismus Identitäten durch Abgrenzung konstituiert und in die Individuen eingeschrieben werden.

Oliver Lauenstein setzt sich am 5. Juli mit den widersprüchlichen Anforderungen an die Subjekten auseinander. Diese fasst er als einen gleichzeitigen Normierungs- wie Individualisierungszwang: Wir sollen einerseits den Anforderungen der Arbeitgeber gerecht werden und uns an diesen ausrichten, andererseits unsere individuellen Fähigkeiten entwickeln und einbringen. Unser Leben sollen wir individuell planen und voranbringen, gleichzeitig sollen wir uns als bloßen Teil des Standorts Deutschland fühlen. Die Widersprüchlichkeit zwischen individuellen Wünschen und gesellschaftlichen Anforderungen wird von den Subjekten v.a. durch vielfältige ideologische Verarbeitungen ausgehalten.


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