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Jenseits von Nischenklitschen und Revolutionsromantik

Anforderungen und Grenzen emanzipatorischer Selbstorganisations- und Freiraumpraxis

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Freiräume, als Teil politischer Praxis, sind in der Linken heiß umstritten.

Auf der einen Seite wird eine unmittelbare Gesellschaftsveränderung durch eigenes individuelles Verhalten angestrebt. Durch eine Umstellung der Lebensgewohnheiten, über die die eigene Existenz jenseits von Markt und Staat organisiert werden soll (etwa durch Containern, Hausbesetzungen etc.), soll eine individuelle Überwindung der kapitalistischen Zwänge erreicht werden. Dass diese Vorstellung, der Ausstieg aus der kapitalistischen Verwertungslogik könne allein durch Containern vollzogen werden, sehr schnell an ihre Grenzen stößt, wird deutlich, wenn mensch sich die Bedingungen ansieht, unter denen die weggeworfenen und containerten spanischen Tomaten von prekarisierten Migrant*Innen geerntet werden.

Auf der anderen Seite lehnen Leute Freiraumkonzepte ab, da sie diese nur als Projekte begreifen, die die gesamtgesellschaftliche Situation nicht verändern. Eine „wirkliche“ Veränderung sei nur durch eine schlagartig vollzogene Aktion möglich, welche die Gesellschaft als Ganzes überwindet. Eine solche Umwälzung würden sie dann Revolution nennen. Aktivist*innen, die sich in Freiraumprojekten engagieren, wird von dieser Position aus vorgeworfen, eine Praxis ohne Theorie, oder im besseren Falle noch eine Praxis wider die Theorie zu machen. Sie würden sich aus der wirklich wichtigen, revolutionären Praxis herausziehen.

Das mit der Revolution ist allerdings nicht ganz so einfach, wie viele lange Zeit gedacht haben. Nicht nur mutet das Bild aus dem 19. Jahrhundert, in dem ein Haufen kühner Recken mit dem Gewehr im Anschlag das Rathaus stürmt, um dann im Anschluss an erfolgreich vorgenommene Liquidierungen die neue Fahne zu hissen, anachronistisch an. Es ist auch nicht nachvollziehbar, wie sich Denken und Verhalten von Menschen grundlegend innerhalb eines Tages verändern sollen. Bis in die 1970er Jahre war dieses Bild vom heroischen Freiheitskämpfer in der Linken dominant. Auch heute noch zeugen "Che Guevara"-Shirts und ein unsäglicher autonomer Militanzfetisch von dieser recht simplen Sicht auf die Welt, in der Gut und Böse sich auf zwei sauber getrennten Seiten der Barrikade aufstellen und um das Wohl und Wehe der Welt kämpfen.

Eine Praxis, die auf gesellschaftliche Veränderungen zielt, muss daher die Beschränktheit beider Positionen berücksichtigen, ohne die berechtigte Kritik an der jeweils entgegengesetzten Position auszusetzen. Einen Versuch, die Umrisse einer solchen Position zu skizzieren und erste Implikationen für alternative linke Praxis anzureißen, legen wir hiermit vor.

„Alles für alle und zwar umsonst“

... ist leichter gesagt als getan. Oder kannst Du Dir vorstellen, wie das funktionieren soll? Zu viel, was da vorher geklärt werden müsste. Wo es herkommt beispielsweise, dies „alles“, wo und wie es produziert wird. Oder wie kommt es von dort zu Dir? Und wie zur Henkerin kommt die unüberschaubare Masse von Vorprodukten an den Ort, an dem das, was Du brauchst, letztendlich hergestellt wird? Und sowieso, warum sollte jemensch diese Vorprodukte überhaupt produzieren? Braucht es da nicht vielfältige Absprachen und Vereinbarungen? Fragen über Fragen.

Und so scheint es dann oberflächlich betrachtet doch eher unwahrscheinlich, dass sich so etwas wie „Alles für alle“ mal umsetzen ließe – von den Problemen, mit herrschenden Verhältnissen und der gesellschaftlichen Marginalisierung emanzipatorischer Kräfte konfrontiert zu sein, mal ganz abgesehen. Was dieses pessimistische Bild richtig benennt, ist zunächst einmal, dass "Alles für alle" sicherlich nicht als Sprung ins kalte Wasser funktionieren wird. Wir können nicht von jetzt auf gleich aus der falschen Gesellschaft aussteigen, um dann "im Kommunismus" alles richtig zu machen, was sich eben von alleine ergeben würde und irgendwie auf der Hand läge. Da liegt, realistisch betrachtet, gar nichts auf der Hand, sondern es tun sich eher Fragen auf, auf die wir suchend eine Antwort finden können. Nicht mehr. Aber immerhin das.

Wir können also nicht von einem gesellschaftlichen Zustand in den anderen springen. Zu viele Entscheidungen, die wir treffen müssten, werden derzeit noch von den herrschenden Institutionen (Staat, Markt, Patriarchat) übernommen. Dabei ist es beileibe nicht so, dass Menschen diese Entscheidungen nicht selber treffen könnten. Es wurde uns nur von Geburt an antrainiert, uns nicht selber darum zu kümmern. Dass Mama für den Abwasch zuständig ist, Papa wochentags arbeiten geht und samstags in der Einfahrt das Auto wäscht, haben wir mit der sprichwörtlichen Muttermilch aufgesogen. Wir lernen dergleichen über praktische Anschauung oder alltägliche Redewendungen, wie etwa der von der Muttermilch, die ebenfalls im Universum patriarchaler Arbeitsteilung zu Hause ist: Sie legt nahe, dass es die Aufgabe der Frauen sei, sich um die ‘Aufzucht der Brut‘ zu kümmern.

So ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, es anderen Leuten oder gesellschaftlichen Konventionen zu überlassen, sich um unsere Bedürfnisse zu kümmern oder Entscheidungen für uns zu treffen.

Hieran lässt sich der Unterschied von Fremd- und Selbstorganisation deutlich machen: Nicht wir organisieren unser Leben, es wird für uns organisiert. Oder besser: Es organisiert uns. Müssten oder wollten wir es anders machen, wüssten wir schlichtweg nicht, wie wir all das anstellen sollten. Denn es geht ja nicht nur um die Frage der Verteilung, sondern auch um die Frage, zu welchem Zweck technologische Potenziale genutzt werden und auch darum, wie sich die bisherigen, herrschaftsförmigen Zwecke in diese eingeschrieben haben. Die Aneignung dieser Potenziale hat also zwei Seiten: Einerseits wollen wir nicht hinter die technischen Möglichkeiten des industriellen Kapitalismus zurückfallen, andererseits ist die reale Nutzung dieser Technologien mit der kapitalistischen Verwertungslogik und dem ihr inhärenten Zerstörungspotenzial verwoben, so dass es keine unkritische Aneignung dieser Technologien geben kann. Selbstorganisation ist also ein voraussetzungsvolles Unterfangen, das nicht von heute auf Morgen umsetzbar ist und mit dem Erproben von Möglichkeiten und dem selbstreflexiven Vortasten in noch unbekannte Gefilde verbunden ist.

Jeder Anfang ist prekär!

Aus diesem Grund ist die Idee der Revolution innerhalb großer Teile der Linken in den letzten Jahren auch mehr und mehr durch die der „emanzipatorischen Transformation“ abgelöst worden. Weniger der einmalige radikal-negierende Akt steht im Mittelpunkt radikaler Politik, als vielmehr der mühsame und beständige Weg aus dem falschen Ganzen heraus.

Um den Weg der Transformation zu gehen, können wir nicht am Ende anfangen. Die ersten Schritte werden schwankend und prekär – oder gar nicht – sein. Es braucht mithin eine Reihe von Projekten, mit denen wir losgehen können in Richtung einer Gesellschaft jenseits von Tausch, Wertvergesellschaftung, Staat und Nation, aber auch jenseits von Patriarchat und heterosexistischer Begehrensordnung. Wir brauchen diese Projekte, damit wir Erfahrungen sammeln können im Umgang mit freier Kooperation, mit Organisations- und Entscheidungsfindungsverfahren und mit der Bekämpfung der vielfältigen Ideologien, die wir alle so verinnerlicht haben - aber auch, damit wir Strukturen aufbauen können, die tatsächlich tragfähig sind und in denen Absprachen verlässlich und verbindlich getroffen werden können, also vorsichtige Antworten auf die banalen Fragen materieller Reproduktion gefunden werden können.

Diese Projekte sind niemals perfekt. Sie sind noch nicht das Richtige außerhalb des Falschen, sondern lediglich ein Versuch, sich aus dem Falschen herauszuwinden. Trotz allem können sie – wie marginal auch immer – erste Hilfestellungen sein für eine herrschaftskritische Organisierung im Hier und Jetzt.

Damit sind sie aber immer auch prekär im schlechtesten Sinne des Wortes. Sie stehen auf wackeligen Beinen und sind in ihrem Bestand nicht gesichert. Veränderte Kräfteverhältnisse, mangelnde Aufmerksamkeit und gezielte Aktionen der gesellschaftlichen Eliten können ihnen jederzeit den Garaus machen. Darüber hinaus sind die Projekte, da sie Verhaltensweisen erfordern, die im patriarchalen Kapitalismus nicht zum Standard gehören – worauf später noch eingegangen wird – für die Beteiligten stets heikel und schwierig. Sie wissen oftmals nicht, wie die vielfältigen Probleme bewältigt werden können und wie sie selber sich verhalten sollen.

Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es eine Vielzahl solcher Projekte. Es können Umsonstläden oder Infoläden sein; es können Nutzer*Innengemeinschaften sein oder auch selbstverwaltete Räume. Was solche Projekte für die gesellschaftsverändernden, emanzipatorischen Bewegungen bedeuten, wollen wir im folgenden umreißen.

You are not what you are – Individuum und Gesellschaft

Dabei stehen derartige Projekte vor grundsätzlich widersprüchlichen Anforderungen. Einerseits haben sie es stets mit Subjekten zu tun, welche die Logiken von Wert und Patriarchat verinnerlicht haben. Das gilt für alle Menschen in der modernen Gesellschaft und schließt auch die Autor*Innen dieses Papiers keinesfalls aus. Diese Subjekte existieren und handeln ihr Leben lang als „vereinzelte Einzelne“, deren Gesellschaftlichkeit eine ungesellschaftliche ist. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen und haben in erster Linie ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu bedenken und voranzubringen. Für das Nebeneinanderherleben der vereinzelten Individuen hat sich in der Kritischen Theorie der Begriff der „Monade“ eingebürgert. Adorno und Horkheimer beschreiben in der "Dialektik der Aufklärung" die Monade als "bloßen Bezugspunkt" bürgerlichen Lebens, der unterscheidet zwischen dem Ich und der "Masse aller Dinge und Kreaturen draußen". Dabei wird diese Monade stets als männlich konstituiert, was im Fortgang der Argumentation noch näher zu betrachten sein wird.

Dabei gibt es diesen scheinbar fehlenden Zusammenhang durchaus, er fällt nur nicht ins Auge. Er ist in weiten Teilen darüber organisiert, dass Menschen auf private Rechnung Waren produzieren und diese Waren dann miteinander in Beziehung setzen. Auch wenn sie das nicht wirklich alleine machen, sondern im Rahmen von Fabriken durchaus gemeinsam, so besteht doch kein direkter Zusammenhang zwischen der einen und der anderen Produktion. Im Tausch wird dann das, was als vermeintlich getrenntes existiert, zusammengebracht. Die Menschen sind zwar vergesellschaftet, allerdings über ein bewusstloses Prinzip. Sie haben kein Verständnis und kein Bewusstsein davon, dass sie nicht alleine sind, sondern in Arbeitsteilung mit- und füreinander produzieren. Das kommt in der oben zitierten Formulierung von Adorno und Horkheimer sehr treffend zum Ausdruck: Es gibt auf der einen Seite die Monade, auf der anderen die "Welt da draußen".

Diese tagtägliche Erfahrung im Arbeitsleben überträgt sich auch auf andere gesellschaftliche Bereiche. Schon in der Schule und, durch BA und Studiengebühren mittlerweile verstärkt, auch an den Universitäten, treten sich die Menschen als Monaden entgegen, die hier in Konkurrenz zueinander gesetzt werden und so erst auf Grundlage dieser Form von gesellschaftlicher Beziehung ihre scheinbar unversöhnlich gegeneinander gerichteten „Interessen“ ausbilden.

Der andere Teil ihrer Vergesellschaftung, der oft in familienartigen Strukturen vor sich geht (auch wenn er nicht ausschließlich dort zu finden ist), wird ebenfalls nicht als Gesellschaftlichkeit wahrgenommen, sondern ins Private abgedrängt. Dass über diese Verdrängungs- und Abspaltungsprozesse es gerade Frauen sind, an denen Tätigkeiten wie Fürsorglichkeit, Pflege, Herstellen sozialer Verbindlichkeit und Wärme etc. hängen bleiben, fällt dabei oftmals gar nicht mehr auf. Für die hier diskutierten Transformationsprojekte spielt diese Erkenntnis jedoch eine wesentliche Rolle, da es auch hier oftmals die Frauen sind, die dann am Ende für diese Tätigkeiten zuständig sind – auf die eine oder andere Weise.

Die Lebenspraxis der Menschen als patriarchal geprägte Warenmonaden schlägt sich in der Art und Weise nieder, wie diese über ihre Umgebung denken. Sie nehmen sich so wahr, als hätten sie nichts mit dem Rest der Welt zu tun. Schuld sind immer die anderen, individuelle Verantwortung kann problemlos abgeschoben werden. Ohnehin ist der Anteil des eigenen Verhaltens am weltweiten Elend derart gering, dass sich da auf unmittelbarem Wege nur sehr wenig ausrichten lässt. In emanzipatorisch-transformatorischen Projekten stellt diese Subjektivität allerdings ein Problem dar. Denn die direkt dem warenproduzierenden Patriarchat entspringenden Subjektkonstellationen verhindern tendenziell Selbstorganisationsprozesse.

Welches Selbst- und welche -Organisation?

Selbstorganisation unterscheidet sich von Fremdorganisation zunächst dadurch, dass hier von allen Beteiligten bewusste Organisationsprozesse eingegangen werden. Nicht organisatorische Hierarchien oder verselbstständigte Prozesse entscheiden über die Abläufe in selbstorganisierten Projekten, sondern der gewollte, gemeinsame Prozess aller Beteiligten. An ihre Grenzen stoßen diese Projekte jedoch regelmäßig bei Herrschaftsformen, die zumeist unbewusst in dem Projekt und durch die Einzelnen hindurch wirken, wie etwa sexistische, rassistische Ideologien, oder eben gesellschaftliche Strukturen, die an das Projekt heran reichen, wie etwa der Markt.

Eine Beteiligung aller an dem Prozess stellt hohe Anforderungen, sowohl an die individuelle Reflexion, als auch an den organisatorischen Rahmen. Ziel ist nicht nur die in der Ferne angepeilte Vereinbarung der „Freien“ und „Gleichen“, sondern schon im Hier und Jetzt der Prozess, der den Menschen hilft, sich und ihre organisatorischen Strukturen überhaupt in eine Lage zu versetzen, die eine solche Vergesellschaftung möglich macht.

Selbstorganisation ist dabei gerade kein automatischer Prozess, in dem sich die Verhältnisse wie von alleine herstellen,1 sondern gerade im Gegenteil dazu die bewusste Organisierung von Interessierten, die dafür eben auch die Möglichkeit haben müssen, auf den Prozess, das Ergebnis und die Umstände gleichermaßen Einfluss zu nehmen.

Ebenso wenig handelt es sich um Selbstorganisation, wenn einfach alle machen, was sie wollen bzw. wenn Menschen sich um ihre Belange selber kümmern, sich sozusagen ihr eigenes Leben selber "organisieren". Diese Variante des Begriffes ist wohl eher einem marktliberalen Mainstream zuzurechnen, der Verantwortung und Handeln stets auf die Individuen herunterbrechen möchte, dabei aber die Konstitution der Individuen als Monaden in einer selbstzweckhaften Gesellschaft bereits voraussetzt – aber von dieser Gesellschaftlichkeit – am besten gar von der Möglichkeit solidarischer Kooperation – nichts weiß.

Verantwortlichkeitsdiffusion und Tradierung patriarchaler Strukturen

Innerhalb von selbstorganisierten Zusammenhängen und Transformationsprojekten schlagen die oben genannten Bestimmungen der patriarchalen Warenmonaden voll durch. Einerseits kommt es zu einer kaum vorstellbaren Verantwortlichkeitsdiffusion, die letztlich der Selbstwahrnehmung aller Beteiligten als „vereinzelte Einzelne“ geschuldet ist. Selbstverantwortliches Handeln und soziale Verbindlichkeit sind jedoch eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren von Transformationsprojekten.

Diese Verantwortungsdiffusion macht sich auf unterschiedlichsten Ebenen bemerkbar. In selbstverwalteten Cafés etwa darin, dass Tassen nicht abgespült, Spülmaschinen nicht ausgeräumt, Tische nicht gewischt oder Tee und Kaffee nicht eingekauft werden. Im Umsonstladen darin, dass Klamotten nach dem anprobieren achtlos in überfüllte Regale gesteckt werden, dass Bücher an beliebige Stellen in zuvor sortierte Bücherregale gestellt werden und dergleichen mehr. Nur allzu oft denken wir nicht daran oder sind nicht bereit, Dinge zu tun, die über unser nacktes Eigeninteresse hinausgehen. Und das, obwohl es etwa in den beiden Beispielfällen durchaus unser eigenes Interesse konterkariert: Beim nächsten Mal werden wir selber die Bücher nicht finden oder die Regale unordentlich und irgendwie ekelig finden. Wir werden selber keine Tasse haben oder vor dem Trinken erstmal Kaffee kaufen müssen.

Hier gilt es jedoch nicht nur die Frage nach der scheinbaren Vereinzelung zu reflektieren, sondern eben auch die herrschaftsförmigen Antworten, die die patriarchale Gesellschaft für gewöhnlich dafür bereit hält: Während sich die (männliche) kapitalistische Monade in der bürgerlichen Gesellschaft für ungebunden, frei und vereinzelt hält, kann sie doch immer auf Verhältnisse zurückgreifen, die alles andere als selbstbestimmt sind, auch wenn sie anders erscheinen. Etwa wenn sich "selbstverständlich" Frauen in heterosexuellen Beziehungen oder in der Familie für Haushalt, das psychosoziale Befinden der Beteiligten, wenn vorhanden für Kindererziehung, etc. verantwortlich fühlen.

Das führt nicht selten dazu, dass nach wie vor auch in selbstorganisierten Projekten selbstverantwortliches Handeln, Infrastrukturtätigkeiten – wie Putzen – , sowie ein Auge auf das soziale Miteinander haben, mehrheitlich von weiblich sozialisierten Menschen geleistet werden, während männlich konstruierte Menschen das als „Selbstverständlichkeit“ hinnehmen. Da sich dies mit der gewohnten Realität nicht notwendigerweise bricht, wird es oft nicht wahrgenommen oder aber sich stillschweigend darauf ausgeruht.

Solche Verhältnisse stellen sich entweder über gesellschaftlichen Zwang ein oder können auch als persönliche Vorlieben erscheinen. Solche Vorlieben bilden sich in der Sozialisation in der patriarchalen Gesellschaft heraus, in der männlich konstruierte Menschen ganz "selbstverständlich" auf Reproduktionsarbeit von weiblich Konstruierten zurückgreifen können, während letztere die an sie gestellten Anforderungen wahrnehmen und bisweilen sogar einvernehmlich ausführen. So persönlich sie also auch erscheinen können, so sehr sind sie Ausdruck eines gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses.

Dies führt offensichtlich zur Tradierung patriarchaler Strukturen. Gerade daher ist ein Selbstorganisationsprozess immer auch ein kollektiver und individueller Selbstreflexionsprozess. Individuell, da Herrschaftsstrukturen nie rein äußerlich sind, sondern sich durch Subjektivität vermitteln, kollektiv, da solche Strukturen zunächst transparent gemacht und in einem gemeinsamen Prozess abgebaut werden müssen.

Ein weiterer Aspekt, der in solchen Zusammenhängen (aber auch darüber hinaus in vielen linken Gruppen) eine Rolle spielt, ist der der mehrfachen Vergesellschaftung von weiblich sozialisierten Menschen. Sie sind zum einen nach wie vor für die typischerweise ihnen zugeschriebenen Tätigkeiten zuständig, sollen zum anderen aber auch verstärkt in den Bereichen aktiv werden, die bislang als „Männerdomänen“ galten. So kommt zum Herstellen von Kommunikation und Gemütlichkeit noch das Schreiben von Texten und Halten von Redebeiträgen hinzu. So ist das Schreiben von Texten und Halten von Redebeiträgen zwar ein Freiheitsgewinn, aber einer, der nur mit Mehrfachbelastung zu haben ist, solange männlich Sozialisierte sich für das Herstellen von Kommunikation, Gemütlichkeit und das soziale Miteinander nicht verantwortlich fühlen. Da zudem Frauen in vielen Zusammenhängen in der Unterzahl sind, müssen die wenigen, die sich noch in kollektive Verantwortung begeben möchten, überproportional häufig in die Verantwortung gehen.

Transparenz und Verantwortlichkeiten

Die Anforderungen, die solche Projekte an die Beteiligten stellen, sind von Projekt zu Projekt unterschiedlich. Was sie eint ist der Anspruch, letztlich Projekte von vielen für viele zu sein. Auch wenn es immer eine mehr oder weniger institutionalisierte Gruppe gibt, die mehr Verantwortung hat als andere, so bleibt doch stets das Ziel, dass das Projekt durch weite Teile der Linken getragen wird und ebenso für weite Teile da ist. Ohne eine Gruppe von Menschen, die sich z. B. als Raumhelfer*Innen verstärkt für einen selbstorganisierten Raum verantwortlich fühlen, wird es aber gerade bei jungen, nicht vollständig etablierten Projekten nicht funktionieren. Wo diese Gruppe fehlt, wie etwa in manchen Umsonstläden, sieht es dann auch entsprechend aus. Ziel dieser Gruppe sollte es aber dabei sein, sich tendenziell selbst überflüssig zu machen.

In selbstorganisierten Cafés gibt es häufig Nutzer*Innen-Plena, die einen Teil dessen leisten sollen, was sich aus dieser Bestimmung an Anforderungen ergibt: möglichst viele Menschen in die Entscheidungsfindungs- und Meinungsbildungsprozesse einzubinden. Das ist ein wichtiger erster Schritt, auf den wir noch zu sprechen kommen werden. Aber nicht alle Nutzer*Innen eines solchen Raumes gehen zu den Plena. Sei es, weil sie zum entsprechenden Zeitpunkt nicht teilnehmen können, oder sei es, weil sie sich auf großen Treffen einfach unwohl fühlen.

Daher braucht es – zusätzlich zu den NutzerInnen-Treffen – noch weitere Verfahren zur Einbindung und Schaffung von Transparenz. Gemeinsam auf den Treffen beschlossene Verabredungen sollten durch Aushänge für alle zugänglich gemacht werden. Über solche Aushänge können auch bestimmte Teile der Projektorganisation gewährleistet werden. Neuigkeiten können vermerkt, Wünsche und Probleme notiert werden. Darüber hinaus sollten die Projekte über eine verständliche und übersichtliche Gebrauchsanleitung verfügen, die es auch Erstbesucher*Innen oder Nicht-Eingeweihten ermöglicht, das Projekt sinnvoll nutzen zu können. Gleichzeitig senken derartige Gebrauchsanleitungen den Aufwand für diejenigen, die sich dauerhaft für den Raum verantwortlich fühlen und mindern die Distanz zwischen ihnen und den übrigen Nutzer*Innen.

Dabei darf freilich nicht vergessen werden, dass Aushänge und andere Wege transparenter Informationsaufbereitung ihrerseits nicht dazu verleiten dürfen, diese wie gesetzte „Regeln“ zu behandeln, die gemeinsame Verabredungen aus dem Miteinander aussparen. Ebenso, wie Transparenz eine Notwendigkeit dafür ist, dass sich Menschen in die konkreten sozialen Prozesse bewusst und offensiv einbringen, sind die Vereinbarungen und Aushandlungsprozesse selber notwendiger Bestandteil emanzipatorischer Praxis. Dabei kann das Projekt nur vorankommen, wenn möglichst viele Menschen bereit sind, sich in die Strukturen einzubringen – die Strukturen es aber ebenfalls ermöglichen, sie ohne aktives Einbringen nutzen zu können.

Umsonstökonomie lernen!

Die Überwindung warenproduzierender Gesellschaftlichkeit ist mit vielen praktischen und ideologischen Problemen verbunden – auch was die Logik von Tausch, Arbeit, Ware und Geld im engeren Sinne angeht. Die Probleme fangen bereits dabei an, dass wir alle diese Logik derart verinnerlicht haben, dass es uns häufig schwer fällt, "einfach so" zu geben bzw. "einfach so" zu nehmen. Auch wenn der Gedanke, etwas nicht (mehr) zu brauchen nahe liegend ist, so fühlen sich viele doch komisch bei dem Gedanken, alte Bücher, Regale, Klamotten, CDs, Spielzeuge oder was auch immer in den Umsonstladen zu bringen – „vielleicht doch ins lieber ins Antiquariat“? Lohnt es sich nicht, dafür einen Vormittag auf dem Flohmarkt ‘rumzustehen? Wo es doch ohnehin nicht so sonderlich rosig aussieht im Portemonnaie?

Aber auch das Nehmen fällt nicht immer leicht. Oftmals beschleicht uns ein schlechtes Gewissen, das irgendwie gar nicht verdient zu haben, was wir uns da nehmen. Schließlich haben wir dafür nicht gearbeitet. So falsch dieses Denken sein mag, so hartnäckig hält es sich - selbst in den Köpfen reflektierter Tausch- und Arbeitskritiker*Innen.

Aber auch praktisch stellen sich einige Probleme. Am Beispiel des Umsonstladens: Wer räumt auf? Wer schmeißt offensichtlichen Schrott weg? Wie kann eine sinnvolle Koordination von Angebot und Nachfrage jenseits von Markt und Plan funktionieren? Am Beispiel selbstverwalteter Cafés: Wo kommen Kaffee und Tee her? Wer räumt auf, wer putzt und saugt? Wo kommen die dafür notwendigen Putzutensilien her? Wer kocht den (nun endlich vorhandenen) Kaffee, wie erfolgen Absprachen über Vorlieben und Abneigungen einzelner NutzerInnen? Am Beispiel von Nutzer*Innengemeinschaften: Wie wird mit allgemein anfallenden Kosten von Dingen umgegangen, die von allen genutzt, aber im Eigentum Einzelner verbleiben (also etwa die Versicherung und die Reparaturen bei NutziGem-Autos?) Wie ist der Umgang mit Kollektiveigentum? Was passiert, wenn Verabredungen nicht eingehalten, Dinge etwa in schlechtem Zustand wieder zurückgegeben werden? Wie ist – ganz allgemein und für alle Projekte formuliert – das Verhältnis der einzelnen Assoziierten und dem Projekt als Ganzem?

Während sich hier also die Fragen der Verteilung in denjenigen Nischen stellen, die sich mit einem bewussten Umgang mit der Überschussproduktion in den kapitalistischen Verhältnissen auseinandersetzen, bleibt dennoch ein übergeordnetes Problem bestehen. Es scheint schwierig genug zu sein, die hergestellten Produkte angemessen und bewusst zu verteilen. Damit ist aber die Frage nach dem Herstellungsprozess noch nicht einmal berührt. Wer stellt denn die geforderten Produkte (Putzutensilien, Kaffee, Autos) her? Und unter welchen Bedingungen?

Um die Gesellschaft emanzipatorisch zu transformieren ist es notwendig, eine Produktionsweise zu finden, die fernab eines unbewussten Prozesses statt findet und sich in gemeinsamer Absprache nach den konkreten Bedürfnissen der Individuen richtet. Eine einseitige Frage nach der Verteilung bleibt zwingend in der kapitalistischen Wertvergesellschaftung verhaftet, wofür das staatskapitalistische Planwirtschaftsmodell der DDR beispielhaft ist. Auch in diesem ging es zuvorderst um die Schaffung von abstrakten Werten und nicht um die Bedürfnisbefriedigung.

Erst wenn die Bedürfnisse der Einzelnen artikuliert und beantwortet werden können, ist eine Abkehr vom bisherigen Monaden-Dasein möglich. Und erst dann kann der von Adorno postulierte Anspruch, Individuum und Allgemeinheit zu versöhnen, auf gesamtgesellschaftlichem Niveau angegangen werden. Aber um diesen Zustand zu erreichen, braucht es schon heute erste, wenn auch oftmals unvollständige Versuche, diesem hehren Anspruch gerecht zu werden.

Im Großen wie im Kleinen – Vernetzung

Für sich allein kann keines der emanzipatorischen Transformationsprojekte sonderlich viel rocken. Es bietet organisatorisch-politische und private Verbesserungen im Alltag von einigen, wird aber zu einem tatsächlichen Transformationsprozess nur mäßig viel beitragen können. Es werden im Kleinen Spielräume entstehen, die Kräfte für andere Aktivitäten freisetzen können. Zusammen mit anderen Projekten sollte es darüber hinaus auch möglich sein, ein Netz zu spannen, auf dem sich erste Voraussetzungen für eine postkapitalistische Vergesellschaftung schaffen lassen sollten.

Dabei sollte das Vernetzungsprinzip ein dezentrales sein: Aktivist*Innen einiger Projekte werden sich, wenn sie gemeinsame Ziele oder Anliegen haben, miteinander an den Tisch setzen und überlegen, wie sie am besten ihre Ziele verfolgen können und wie sie ihr Anliegen mit welchen Mitteln umsetzen wollen. Dadurch entstehen weitere Spielräume, die die Aktivist*Innen in die Lage versetzen, gemeinsam Schritte zu gehen, die bislang noch nicht möglich waren. Projekte anzugehen, die bislang utopisch erschienen, um einen weiteren Bereich der individuellen Reproduktion aus der kapitalistischen Vergesellschaftung herauszulösen.

So entstehen Strukturen, die vermutlich dezentral und „basisdemokratisch“ organisiert wären. Wie diese Strukturen faktisch organisiert wären und wie sie sich zueinander verhalten würden, lässt sich im vornherein jedoch nicht planen oder festlegen. Es sind unterschiedliche Varianten möglich, die je nach Fallkonstellation differieren werden. Ein zentraler Aspekt von selbstbestimmter Vergesellschaftung ist es ja gerade, dass diese nicht nach vorher bestimmbaren Strukturen organisiert ist, sondern diese von den Beteiligten bewusst eingerichtet werden und prinzipiell jederzeit änderbar sind.

Kollektive Organisierungserfahrungen

Nicht nur im Rahmen projektübergreifender Vernetzung, sondern auch für den Alltag in den Projekten werden mit der Zeit kollektive Organisierungserfahrungen gemacht werden. Es wird sich herausstellen, welche Formen von Strukturierung des Projektes, von Entscheidungsfindung und Umsetzung sich bewähren. Je nach spezifischem Charakter des Projektes werden das jeweils andere Formen sein.

Bei vielen Projekten wird es sinnvoll sein, sich in mehr oder minder regelmäßigen Abständen zu treffen, um Dinge gemeinsam bereden und verabreden zu können. Einige Dinge werden sich über das Internet auslagern lassen und ermöglichen eine dezentrale Nutzung von Wikis, Foren, Mailinglisten und dergleichen mehr. Gerade wenn Organisierungsprozesse nicht hinter den gegenwärtigen technischen Möglichkeiten der Gesellschaft zurückfallen sollen, sollten die sich in diesem Bereich bietenden Möglichkeiten genutzt werden. Es sollte jedoch stets bedacht werden, dass bei internetgestützten Gruppenprozessen oftmals ähnliche Dinge auftreten wie bei Plena. Auch hier gibt es individuell unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten, auch hier sind die Hürden nicht für alle gleich groß. Menschen nutzen das Internet auf ganz unterschiedliche Weise. Das muss nicht davon abhalten, auf technische Hilfsmittel zurückzugreifen, sollte aber stets mit bedacht werden.

Die konkreten Verfahren bei der Meinungsbildung innerhalb der Projekte werden sich ebenfalls von Fall zu Fall unterscheiden. Wichtig ist dabei, dass alle Beteiligten die reale Möglichkeit haben, in vergleichbarer Weise auf den Prozess Einfluss zu nehmen. In einigen Fällen ist sinnvoll, im Plenum zu diskutieren. Manchmal macht es Sinn, mit Kartenabfragen Bedürfnisse und Positionen vor Beginn der Diskussion transparent zu machen. Bei kniffligen Fragen kann die Fishbowl-Methode helfen, die Diskussion zu strukturieren. Allerdings sind diese Methoden zumeist nicht ohne Nebenwirkungen. Die strukturierende Wirkung der Fishbowl-Diskussionen steht etwa einer häufig wahrgenommenen Erhöhung der Hemmschwelle gegenüber, überhaupt an der Diskussion teilzunehmen.

Ebenfalls herausstellen wird sich mit der Zeit, welche Entscheidungsfindungsverfahren und Verbindlichkeitsstufen sich für das Projekt eignen: ob alle für einen Vorschlag sein müssen, ob sich gar alle bereit erklären müssen, ihn aktiv zu unterstützen, ob alternativ mit 3/4-, 2/3- oder normalen Mehrheitsbeschlüssen gearbeitet wird oder ob einfach alle ihr Ding durchziehen, solange es niemenschen stört - alles das lässt sich vorher nicht sagen. Es wird je nach Projekt und Themenfeld differieren, aber es werden sich Erfahrungen herauskristallisieren, was wann wie sinnvoll ist, was vielleicht eher wenig taugt und was gar nicht geht.

Dazu kommt, das wir vermutlich viele Techniken der Meinungs- und Entscheidungsfindung heute noch gar nicht kennen. Kreative Gruppenprozesse enthalten ein Potenzial für Lösungen, die weit über standardisierte Methoden und tradierte Mehrheitsverfahren hinausgehen.2

Selbstorga lernen!

Selbstorganisierte Prozesse sind nicht einfach zu gestalten, sondern vielmehr sehr voraussetzungsvoll. Sie streben eine hierarchiefreie Organisierung aller Beteiligten an. Entsprechend verändert sich der Fokus des Tätigseins. Es geht nicht nur darum, ein Ziel möglichst effizient zu erreichen, sondern vielmehr darum, wie dieses Ziel erreicht wird und dass sich eben alle auf vergleichbare Art und Weise in den Prozess einbringen können.

Dies macht selbstorganisierte Prozesse oftmals langwieriger als fremdbestimmte Formen der Gruppen- und Projektorganisation. Mit Blick auf das gerade zu erreichende Ziel erscheint es sinnvoll, Standards funktionierender Selbstorganisation unbeachtet zu lassen, da sie kurzfristig Zeit kosten. Allerdings bietet Selbstorganisation auch eine Vielzahl von Vorteilen, die dieses Manko spätestens mittelfristig wieder wett machen dürften.

Selbstorganisierte Zusammenhänge sind unabhängiger von Einzelnen. Es ist eben nicht möglich, einfach einen vermeintlichen "Rädelsführer" aus dem Verkehr zu ziehen, und schon ist der Zusammenhang neutralisiert. Im Gegensatz zu Parteien, Wirtschaftsunternehmen oder einigen Antifa-Gruppen zeichnen sich selbstorganisierte Prozesse eben dadurch aus, dass möglichst alle über alles informiert sind.3

Zudem verteilen sich Fähigkeiten auf mehrere Menschen, so dass die Einzelnen – die zu Beginn des Prozesses besonders stark in der Verantwortung stehen – mittelfristig entlastet werden. Hinzu kommt, dass im Idealfall alle darüber informiert sind, warum bestimmte Vorgehensweisen für sinnvoll erachtet wurden bzw. werden. Das ermöglicht eine größere Zufriedenheit mit dem Projekt und motiviert am ehesten dazu, sich verantwortlich zu fühlen und einzubringen. So mag es durchaus gute Gründe geben, die Fenster des Jugendzentrums mit Maschendraht zu versehen, etwa die Erfahrungen mit Nazi-Übergriffen aus der Vergangenheit (wie z. B. in Göttingen). Allerdings sollte diese Entscheidung transparent gemacht werden, damit nicht einzelne Beteiligte das Gefühl haben, andere wollten hier ihren Militanzfetisch ausleben – und fühlen sich hiervon eher abgestoßen denn involviert.

Wesentlich dabei ist, dass die Einzelnen tatsächlich mit ihren Wünschen, Vorstellungen und Fertigkeiten im Mittelpunkt des kollektiven Prozesses stehen. Durch diesen Anspruch wird die oben beschriebene Prozesshaftigkeit dann auch notwendig. Meinungsbilder, Vorstellungs-, Befindlichkeits- und Abschlussrunden sind hier eine gute Methode, allen die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern. Darüber hinaus ist es hilfreich, wenn sich alle Beteiligten mit einer Haltung der Freundschaft und des Respekts gegenübertreten. Dies beinhaltet auch eine grundsätzliche Fehlerfreundlichkeit: Fehler machen wir alle und können passieren. Mit Ideologien im Kopf und unsinnigen Verhaltensweisen im Körper, mit herrschaftsförmigem Denken und ebensolchen Handlungsweisen kommen wir alle mehr oder weniger aus der falschen Gesellschaft – diese gilt es bewusst zu machen, zu reflektieren und zu bekämpfen, dabei aber nicht in jedem Fall allzu schnell am Einzelnen zu verurteilen. Transformationsprojekte sind in diesem Sinne auch immer Lernprozesse.

Damit Kommunikationshierarchien von Beginn an minimiert werden, sollten möglichst viele Kommunikationswege eröffnet werden. Hierzu zählt sowohl der Austausch von Kontaktdaten, als auch die Ermöglichung virtueller Kommunikation via Internet (Wikis, Foren, Mailinglisten).

Bei gemeinsamer, gleichberechtigter Kommunikation ist es wichtig, dass tatsächlich alle am Prozess teilhaben können. Es ist für die einzelnen oftmals demotivierend und spaßhemmend, wenn unverständlich dahergeredet bzw. -geschrieben wird. Zu den wesentlichen Standards transparenter Kommunikation gehört dabei der Verzicht auf unbekannte Abkürzungen, die Verwendung spezifischer (nicht erklärter) Fachbegrifflichkeiten oder die fehlende Benennung der wesentlichen Hintergründe, die den Inhalt einer Debatte verständlich machen können. Demgegenüber sollte es immer transparent gemacht werden, wenn Einzelne dem Prozess nicht folgen können. Zumeist stellt sich dann heraus, dass sie damit nicht alleine sind.

Um auch über traditionelle Plenumsdiskussionen hinaus eine möglichst umfassende Offenheit zu garantieren, ist es wichtig, immer wieder auf Methoden zurückzugreifen, die strukturierend und beteiligungsfördernd auf den Gruppenprozess wirken. Runden zu unterschiedlichen Themen können ebenso dazugehören wie Brainstormings, Kleingruppenarbeit, Kartenabfrage, Fishbowl-Diskussionen und dergleichen mehr.

Eins sollte jedoch bedacht werden: Methode bedeutet "regelgeleitetes Handeln", und oftmals haben die Regeln auch einen Sinn. Runden sollten tatsächlich als Runde (die Nachbarin macht weiter) durchgeführt werden, es sollte tatsächlich keine Nachfragen und Kommentare während der Runde geben – auch wenn es manchmal schwer fällt. Alles andere würde den erhofften Effekt zunichte machen und die Methode wäre für die Katz. Selbstverständlich kann es sich dabei nur um bewusst gewählte Regeln handeln – Methode um der Methode willen, oder "weil man das halt so macht", hat nicht viel mit Selbstorganisation zu tun.

Zu Transparenz und gleichberechtigter Teilnahme gehört es dann auch, dass Entscheidungen bewusst getroffen werden. Darum ist es zumeist wichtig, sie tatsächlich auch als Entscheidungen zu markieren – also bei Unklarheit noch einmal nachzufragen, ob dies und jenes jetzt tatsächlich so gemacht werden soll. Ob dann mittels Klopfen, Klatschen, Handzeichen oder Abstimmungen die tatsächliche Entscheidungsfindung durchgeführt wird, ist davon zunächst noch unbenommen. Die Ergebnisse sollten dann möglichst transparent gesichert werden – oftmals bieten sich Protokollwandzeitungen zu diesem Zweck an.

Früher oder später kommt es sehr wahrscheinlich zu Konflikten in dem Projekt. Dann ist es wichtig, diese nicht zugunsten einer Pseudoharmonie zu vermeiden. Das mag kurzfristig Ruhe bringen, wird aber langfristig gegen das Projekt als Ganzes zurückschlagen. Darum ist es wichtig, Konflikte anzusprechen und auf gleicher Augenhöhe auszutragen.

Umgang mit Ideologien und herrschaftsförmigen Verhaltensweisen

Der patriarchale Kapitalismus, den zu überwinden ja das Ziel dieser emanzipatorischen Transformationsprojekte sein soll, ist nicht nur eine Form gesellschaftlicher Vermittlung, durch die Produktion und Verteilung von (oft auch immateriellen) Dingen gewährleistet wird. Er hat darüber hinaus die unangenehme Eigenschaft, den Menschen verquere Vorstellungen über die Welt und sich als Individuen in den Kopf zu setzen. So neigen wir dazu, gesellschaftliche Verhältnisse und Zustände als natürlich zu interpretieren. Nicht nur, dass die Existenz zweier dichotomer Geschlechter als Naturzustand hypostasiert wird; auch die damit einhergehende geschlechtliche Hierarchie wird dann mit der vermeindlich naturhaften Neigung von Frauen, sich um Kinder und Haushalt zu kümmern, begründet. Dasselbe gilt für rassistische und antisemitische Zuschreibungen, für die Beurteilung anderer Nutzer*Innen nach ihrem Aussehen oder die – bewusste oder unbewusste – Abwertung und Ausgrenzung von Behinderten Menschen aus linken Zusammenhängen. Dass Kinder auch in solchen Räumen oftmals nicht als vollwertige Nutzer*Innen angesehen, sondern in eine eigens für sie geschaffene Kinderecke abgeschoben werden, ist eine weitere, oft verdrängte Facette gesellschaftlicher Ideologiebildung. Diese Vorstellungen wieder aus den Köpfen herauszubekommen, ist eine wesentliche Aufgabe emanzipatorischer Ideologiekritik und hat ihren Ort nicht zuletzt in sozialen Projekten jedweder Art.

Oftmals wird die Ansicht vertreten, Projekte seien erst dann emanzipatorisch, wenn derartige Ideologien im Rahmen ihrer Praxis keine Rolle mehr spielten. Diese Ansicht verwechselt jedoch das fertige, postkapitalistische Projekt mit dem, dessen Anliegen ja gerade die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse ist - zu der eben auch eine kritische Reflexion dieser Ideologien gehört. Es sollte uns also nicht überraschen, auch in diese Projekten immer wieder auf Aussprüche und soziale Praxen zu treffen, die nicht dem ‘progressivsten Standard‘ emanzipatorischer Theorie entspricht. Diese an sich recht simple Feststellung spricht auf der einen Seite für eine gewisse Fehlerfreundlichkeit, wie wir sie oben schon erwähnt haben: wir alle machen Fehler und wollen miteinander und voneinander lernen, diese zu überwinden. Ein Fehler macht einen Menschen noch nicht zu einer Unperson, die kein Teil der bereits völlig emanzipierten Strukturen sein könne. Was innerhalb dieser Räume jedoch wesentlicher Standard sein sollte, ist die Bereitschaft, eine Auseinandersetzung mit diesen Dingen voranzutreiben.

Herrschaftsförmige Verhaltensweisen zu erwarten und durch (Selbst-)Reflexion abbauen zu wollen, kann auf der anderen Seite aber nicht bedeuten, dass jedes Verhalten tolerabel ist. Freiraum bedeutet nicht, dass jede*R tun und lassen kann, was sie*er will: Die „Freiheit“, internalisierte Verhaltensweisen, ideologische Weltdeutungen und die eigene Machtposition in Herrschaftsverhältnissen nicht zu hinterfragen und zu reproduzieren, ist keine Freiheit, sondern Herrschaft. Ein Raum in dem etwa ideologisches Denkweisen verbreitet werden, sei es bloß durch z.B. rassistische, antisemitische, sexistische oder homophobe Witze, sei es durch Beleidigungen, sei es durch etwa mackerhaftes, dominantes und raumeinnehmendes Verhalten oder das Verbreiten menschenfeindlicher Positionen, ist bestenfalls ein „Freiraum“ für diejenigen, die davon nicht betroffen sind. Erst recht wird der Freiraum für Betroffene genommen, wenn etwa sexistische Grenzverletzungen, rassistische Hetze, gewaltsame körperliche Übergriffe dort „toleriert“ werden und jederzeit erwartet werden müssen.

In solchen Fällen kann in einem Raum oder einem Zusammenhang nur gelten, dass die Betroffenen von Herrschaftsverhältnissen und deren gewaltsamen Praktiken vor den praktizierenden Tätern stets Vorrang haben: So wie es in feministischen Debatten im Konzept der „Definitionsmacht der Betroffenen“ formuliert wurde, gilt es zunächst den Freiraum für Betroffene (wieder-)herzustellen und den von denjenigen, die anderen diesen unmöglich machen, hinten an zu stellen – Täter also, wenn deren Verhalten oder Anwesenheit eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Betroffenen bedeutet oder gar die Gefahr von Retraumatisierungen in sich birgt, nötigenfalls aus den Räumen auszuschließen, um den Freiraum auch praktisch für Betroffene wieder herzustellen.

Dafür, was als Grenzverletzung oder Übergriff gelten kann, lassen sich keine objektiven Kriterien angeben, da persönliche Grenzen stets subjektiv gezogen werden und objektive Bestimmungen und Urteile meist selbst aus der Herrschaftsperspektive definiert werden. Auch dafür, welche Bedingungen dafür notwendig sind, die Handlungsfähigkeit der Betroffenen wieder herzustellen, können subjektiv völlig unterschiedlich sein und lassen sich nicht objektiv angeben. Sie müssen daher stets von den Betroffenen selbst definiert werden können – die Definitionsmacht darüber muss bei den Betroffenen selbst liegen.4

Kurzum: Ideologische Praxen wie Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie usw. haben in Freiräumen nichts zu suchen. Es geht darum, sie einzudämmen und verinnerlichte Verhaltensweisen stets zu reflektieren und abzubauen. Im Zweifelsfall aber hat die Perspektive von Betroffenen Vorrang vor der Täterperspektive.

Gesellschaft aneignen – Herrschaft abwickeln!

Herrschaft entsteht durch gesellschaftliche Praxis hindurch und kann daher auch nur durch eine solche hindurch aufgehoben werden. Das Spezifische an der Herrschaftsform der bürgerlichen Gesellschaft ist, dass sie sich zwar durch die Praxis und die Subjektivität der Einzelnen hindurch herstellt und reproduziert, sich aber gleichzeitig den Einzelnen gegenüber verselbständigt und ihnen als äußerer Zwang gegenübertritt, über den sie keine Kontrolle haben und der sie zum beständigen Handeln innerhalb dieser Form, und damit der Reproduktion jener Verhältnisse nötigt. Mensch kann sich daher nicht bloß durch einen voluntaristischen Willensakt oder ein vereinzeltes „besseres“ Handeln einfach entziehen. Ebensowenig ist auf dem Boden eben dieser Form etwa durch endlose „Reformen“ eine Überwindung von Herrschaft möglich. Es braucht vielmehr einen radikalen Bruch, der grundsätzlich mit den Formen dieser Gesellschaft Schluss macht.

So attraktiv aber die Vorstellung einer „Revolution“, die zum Zeitpunkt X die Gesamtheit aller herrschenden Verhältnisse über Nacht umwirft und eine vorher bloß theoretisch ausgemalte „Utopie“ verwirklicht, auch sein mag – ein solches Vorhaben kann der Komplexität gesellschaftlicher Herrschaft nicht gerecht werden und scheitert spätestens daran, wie tief diese in die Subjektivität jeder Einzelnen eingebrannt ist. Sie kann daher kaum eine Perspektive auf radikalen gesellschaftlichen Wandel bieten.

Die Selbstorganisation in einzelnen Freiraum- oder Umsonstökonomieprojekten im Bestehenden hingegen kann mittelfristig erste Ansätze anderer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens praktizierbar und lebbar machen, ohne das mit ihnen allein schon das Ganze der „falschen Gesellschaft“ überwunden wäre. Solche Projekte als Selbstzweck, die bloß Nischen schaffen, in denen mensch sich erhaben gegenüber dem feindlichen „Außen“ der bestehenden Gesellschaft fühlen kann, bietet aber ebensowenig eine radikale Überwindungsperspektive. Vielmehr sind solche Projekte als Transformationprojekte betrachtet eine Möglichkeit, im Bestehenden andere Praxen kollektiv zu entwickeln und auszuprobieren und dabei die je eigene Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse zu reflektieren, bewusst zu machen und anzugehen. Durch dieses Ineinandergreifen von verändernder Praxis und bewusster Reflexion hindurch können aber die Bedingungen erst geschaffen werden, um eine langfristige, radikalere Transformationsperspektive, die über das Bestehende hinaus weist, überhaupt erst zu ermöglichen.

Es ginge also darum zunächst im Kleinen erste Ansätze zu schaffen, die darauf abzielen sich auszubreiten und zunehmend gesellschaftliche Bereiche und Ressourcen anzueignen, um sie zu transformieren. „Transformation“ meint dabei einen Prozess der fortschreitenden und schrittweisen Aneignung sowohl von gesellschaftlichen und materiellen Ressourcen als auch der bewussten Einrichtung zwischenmenschlicher Beziehungen, die unter der Kontrolle der Menschen stehen, statt diese zu kontrollieren.

Erst eine Ausrichtung, die auf eine solche zunehmende Aneignung aus ist, kann eine Perspektive über bloßes Nischendasein auf einen radikalen gesellschaftlichen Wandel hin bieten. Ein solcher Prozess kann sicherlich nicht reibungslos funktionieren. Versuche können scheitern oder sich als nicht praktizierbar herausstellen. Bestimmte Ansätze können oder müssen im Prozess der Transformation wieder verworfen und vor dem Hintergrund der Erfahrungen neu überdacht werden. Auch können sich bestimmte Organisationsformen, die im Anfangsstadium im Umgang mit dem Bestehenden sinnvoll waren, sich im Laufe eines Transformationsprozesses als überflüssig oder nicht mehr praktikabel herausstellen. Ebenso kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich eine Transformationsbewegung jederzeit ohne Konfrontationen mit den Institutionen der bestehenden Gesellschaft schlicht in relativer Koexistenz ausbreiten kann. Eine Transformationsbewegung braucht daher nicht nur einen langen Atem, sondern auch strategisches Geschick, sich gegen bestehende Kräfteverhältnisse und herrschaftsförmigen Zugriff zu sperren, ohne selbst Herrschaft zu reproduzieren.

Schlussendlich kann der radikale Bruch keine Ersetzung der bestehenden Gesellschaft durch eine klar deduzierbare „andere Gesellschaftsform“ sein, sondern dies muss in einem Prozess geschehen, der sich durch prinzipielle Offenheit und Veränderbarkeit durch diejenigen, die ihn praktizieren, auszeichnet. Der in seinem Verlauf einen bewussten gesellschaftlichen Zusammenhang schafft, der von den Menschen selbst eingesetzt wird und in dessen Mittelpunkt stets die Bedürfnisse und Wünsche der Einzelnen stehen, statt diese zu Anhängseln eines sinnlosen Gesellschaftsgefüges zu machen, in dem sie sich bestenfalls gegenseitig zerfleischen können.


1) Dieser Begriff von Selbstorganisation unterscheidet sich fundamental von dem, der in den letzten Jahren durch die Luhmann‘sche Systemtheorie bekanntgeworden ist. Bei Luhmann sind es die Systeme selber, die aufgrund ihrer Eigenlogik dazu neigen, sich selbst zu organisieren. Insofern wäre der Luhmann‘sche Begriff von Selbstorganisation - wie es sich für einen deutschen Verwaltungsbeamten gehört - einer, dem Fremdbestimmung und subjektlose Herrschaft gewissermaßen eingeschrieben ist.

2) Bereits vorhandenes Wissen ist oftmals in Readern allen zugänglich, empfehlenswert für den Einstieg ist etwa der HierarchNIE-Reader. http://www.projektwerkstatt.de/hoppetosse/entsch_v_u.htm

3) Sicherlich ist es in einigen Fällen durchaus sinnvoll, bewusst auf Transparenz zu verzichten, um die Gefahr staatlicher Repression zu mindern. Diese Sicherheit wird jedoch immer mit negativen Folgen für den Gruppenprozess erkauft und sollte daher nicht zur unhinterfragten Normalität werden, sondern gezielt dort strategisch eingesetzt werden, wo es unumgänglich ist.

4) Auch wenn dabei Einschränkungen für Täter formuliert und durchgesetzt werden, handelt es sich bei dem Konzept der „Definitionsmacht der Betroffenen“, wie oft fälschlich angenommen wird, weder um „Bestrafungen“ oder „Verurteilungen“ im bürgerlich-juristischen Sinn, noch um ein Instrument willkürlicher Herrschaft, sondern um ein Mittel, in einer herrschaftsförmigen Gesellschaft die gewaltsame und ausschließende Wirkung von Herrschaft einzudämmen und durch den konsequenten Vorrang der Bedürfnisse und der Perspektive der Betroffenen diese Wirkungen nicht zu wiederholen. Für eine ausführlichere Diskussion des Konzepts vgl. Gruppe 180°: „Must Have: Definitionsmacht. Zur Unabdingbarkeit einer antisexistischen Praxis“, http://www.180-grad.net/101


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