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Das Patriarchat ist tot!

Redebeitrag zur Demo „Nein heißt Nein! queerfeministische Demonstration für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper“ am 7. März 2009 in Göttingen.

Wir sind Kanzlerin und sogar Fussballweltmeisterin! Wozu braucht es 2009 denn eigentlich noch den Feminismus? Was soll nach Beckhams Mascara-Wimpernschlag, der Homo-Ehe und Charlotte Roches „Feuchtgebieten“ noch kommen? Das Patriarchat ist doch schon lang überwunden. Oder etwa nicht?

Es lebe das Patriarchat!

Im Herbst 2008 stellte eine EU-Kommission fest, dass Frauen für die gleiche Arbeit im Schnitt ein Viertel weniger Lohn bekommen. In Spitzenpositionen sind Frauen immer noch deutlich unterrepräsentiert.

Bis 1977 durften Ehefrauen nach geltendem Recht nur mit Erlaubnis ihres Gatten arbeiten gehen.

Das doppelte Lottchen – Doppelte Vergesellschaftung von Frauen

Frauen haben heute nicht nur das Recht, sondern meist auch die Pflicht arbeiten zu gehen. Familien mit nur einem Einkommen haben es schwer. Wir haben mit diesem Recht also auch einen neuen Druck errungen: Heute ist die Super-Mutti gefragt, die selbstverständlich Karriere macht. Lohnarbeiten zu gehen befreit also nicht vom Herd. In einer Gesellschaft in der auch nur die essen darf, die auch arbeiten geht befinden wir uns in einer exklusiven Zwickmühle. Deswegen gilt es beides abzuschaffen: Die Lohnarbeit als einzige Lebensberechtigung und -grundlage und das moderne Patriarchat, dass uns noch immer mit seinen Zumutungen bedrängt.

„Ich bin schwul und das ist gut so!“

Erst 1994 wurden die letzten Gesetzespassagen gestrichen, die Homosexualität unter Strafe stellten.

Homo- oder transsexuelle Menschen sind am Arbeitsmarkt – wie in der gesamten Gesellschaft – immer noch heftigen Anfeindungen und hartnäckigen Vorurteilen ausgeliefert. Daran ändert auch das neue Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz eher weniger – oder wie oft sind Sie in letzter Zeit von einer Transfrau oder einem Transmann am Bankschalter, im Einwohnermeldeamt oder auch als Verkäufer*In bedient worden? Gerade in der unmöglich langen „Probezeit“, in der Betroffene noch mit ihrem alten Namen und Personenstand im Pass geführt werden und noch keine weitereichenden Veränderungen am Körper vorgenommen werden dürfen, ziehen sich viele zurück. In Deutschland müssen Transsexuelle über ein Jahr warten bis sie auf operative Maßnahmen zugreifen können. Wer ist schon gerne die „Tunte im Kleid“?

Der Bürgermeister der Hauptstadt mag schwul sein und das mag auch gut sein, aber wird es nicht doch einen Grund geben, warum er dies so stolz erst beim Amtsantritt verkündigte und gerade nicht während des Wahlkampfes?!

Auch auf den ersten schwulen Fussballstar warten wir immer noch vergebens... Von Transgendern im Leistungssport dürfen wir nur träumen... Auch wenn das die internationalen Sportbünde vor schier unlösbare Aufgaben stellen würde: „Treten die dann für die Männer oder für die Frauen an?!“

Männer, Frauen, oder andersrum... völlig egal

Pseudowissenschaftliche Bücher wollen uns immer wieder erklären, wie verschieden doch Frauen und Männer seien, warum die einen nicht einparken und die anderen nicht zuhören könnten. Selbstredend sind Männlein und Weibchen dabei heterosexuell – also wollen unbedingt zusammenkommen obwohl sie doch „sooo“ unterschiedlich sind. Hm... nach der Logik sollten wir alle lieber homosexuelle Partnerschaften suchen – Das wäre doch mal konsequent. Dämliche Witze auf dem Niveau „Frau-Deutsch / Deutsch-Frau“ sind beliebter denn je. Haben wir das finstere Patriarchat also hinter uns, nur weil wir gerne darüber lachen? Offenkundig nicht, denn sonst gäbe es ja

nichts zu lachen.

Gewalt gegen Frauen, Homosexuelle und Transgender

Erst seit 1997 wird Vergewaltigung in der Ehe als Straftat geahndet.

Gar nicht zum Lachen ist, dass in der letzten Veröffentlichung zur Lebenssituation von Frauen in der BRD 40% der 10.000 Befragten angaben, mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher Gewalt geworden zu sein. 57% erlebten sexuelle Belästigung, jede siebte Frau ist von sexueller Gewalt betroffen. Rund ein Viertel aller Betroffenen hat körperliche, sexuelle oder sexualisierte Gewalt durch den eigenen Partner, Familienangehörige oder Freunde und Bekannte erfahren. Es geht hier also nicht um ein Problem weniger, irgendwie ‘gestörter‘ Menschen, die „so etwas“ tun. Es ist ein gesellschaftliches Problem, es geschieht tagtäglich hier, zwischen und unter uns. Die Idee von Frauen als verfügbare Sexobjekte sitzt tiefer als viele es gerne wahr hätten. Dem gilt es entschieden entgegen zu treten! Nein heisst Nein!

Repräsentative Studien zu Gewalt gegen Homosexuelle und Transgender existieren bislang nicht einmal. Einige erste Studien zeigen aber, dass rund 40% der befragten Schwulen Opfer von Übergriffen sind – zur Anzeige kommt es aufgrund der Angst für weiterer Diskriminierung durch die Behörden meist nicht. Die Dunkelziffer könnte also durchaus noch höher liegen.

Auf der anderen Seite bildet sich jedoch ein erheblicher Teil des heterosexuellen Mainstreams ein, selber von einer homosexuellen Übermacht belästigt zu werden. Sobald schwullesbische Menschen ihr Liebe in öffentlich zeigen, gelten sie als aufdringlich. Wenn dieselben Handlungen von heterosexuellen Paaren vollzogen werden, fällt das für gewöhnlich nicht einmal auf.

Und wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Sie hetero sind?

Diese Frage wird so nicht gestellt. Gefragt wird nur ob das gegenüber „anders herum“ ist – eben nicht der Normalfall, eben nicht hetero.

Eine weitere Quizfrage: Kreuzen Sie bitte an – männlich, weiblich, vielleicht?

Richtig, das dritte Kästchen gibt es nicht, nichts ankreuzen gilt auch nicht. Wieso ist es denn noch so wichtig per Kreuz ein Geschlecht anzugeben, wenn das Patriarchat doch angeblich längst überwunden ist? Es scheint eben doch noch eine Rolle zu spielen.

Was ist mit denen, die sich nicht mit den Geschlecht, dass in ihrem Ausweis steht identifizieren können? Die können sich ja operieren lassen! So einfach ist das aber nicht – der Weg von sogenannten Transgendern ist übersäät von juristischen, pathologisierenden und medizinischen Stolpersteinen – von der gesellschaftlichen Ausgrenzung ganz zu schweigen.

Und wer A sagt muss auch B sagen: Menschen, die sich nicht für das entgegengesetzte Geschlecht entscheiden können, kommen als Fall in der Juristerei, der Medizin usw unter die Räder. Immernoch soll entschieden werden: Mann oder Frau! Wozu denn eigentlich?

.... die unsichtbare Diskriminierung

Trotz formaler Gleichheit und Freiheit scheint es unsichtbare Hürden zu geben, die Frauen wenn überhaupt mit viel Anlauf nehmen müssen. Es ist kein Zufall, dass Frauen in Männerdomänen schwerer zu

kämpfen haben. Aber das auch selbst im Alltag: in der Familie, der WG, der Schule im Freundes- und Bekanntenkreis - bestimmte Vorstellungen wirken. Egal wie offen und nah wir einander betrachten:

Wird die Bekannte mit den häufig wechselnden Männerbekanntschaften nicht anders betrachtet, als die verheirateten Freundinnen? Sorgt man sich um jüngere Mädchen und junge Frauen in der Familie nicht immer noch mehr als um männliche Altergenossen?

Alle! Hier und anderswo!

1930 wurde das Frauenwahlrecht in der Türkei eingeführt. In der Schweiz erst 1971.

In Deutschland und Europa ist es also um Emanzipation und Befreiung noch lange nicht so gut bestellt, wie wir oft hoffen. Aber in vielen Teilen der Welt sind Frauen, Homosexuelle und Transgender sogar mit Leib und Leben bedroht: Kinder- und Zwangsheiraten, Genitalverstümmelung und strafrechtliche Verfolgung sind nur die Spitze des Eisberges.

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sind weltweit zwischen 100 und 140 Millionen Frauen und Mädchen an den Genitalien verstümmelt. In vielen Ländern – nicht nur der Dritten Welt gilt jegliche Homosexualität als Straftat, die meist mit mehreren Jahren Haft, oft Lebenslänglich geahndet wird. In Nigeria, Mauretanien, Sudan, Iran, Jemen droht die Todesstrafe.

Frauen mit Migrationshintergrund mögen dem ein oder anderen Zugriff durch ihre Flucht entkommen sein, sind aber in der BRD rassistischen Angriffen und diskriminierender Rechtssprechung ausgesetzt. Hinzukommt: Der lange Arm konservativer Vorstellungen des Herkunftslandes reicht oft auch bis in ihre neue Lebensumgebung.

Alle! Hier und anderswo!

Das Patriarchat trifft uns alle und wir stellen es agtäglich auch eifrig wieder her.

Es ist zu begrüßen, dass sich immer mehr Väter an der Haus- und Erziehungsarbeit beteiligen oder sie gar übernehmen. Es mögen auch immer mehr Frauen in wichtige Positionen kommen.

Letztendlich ändern tut sich aber damit nicht viel. Der Rollenwechsel Hausmann und Spitzenmanagerin hebt die Unterschiede nicht auf, sondern vertauscht sie bestenfalls. Die heterosexuelle Kern- und Kleinfamilie bleibt erhalten.

Es muss also um mehr gehen als Rollentausch, nämlich um ein Abschaffen der Rollen selbst – ohne dabei zu übersehen, dass die Konzepte von Mann und Frau, hetero-, homo-, bi-, trans- oder intersexuell in der Gegenwart real und damit wirkungsmächtig sind. Diese zwei Ziele, die Bekämpfung und Überwindung des zweigeschlechtlich organisierten Patriarchats und die Bewegung auf eine Gesellschaft hin, die diese strikte Trennung der Welt nicht braucht, in der die unterschiedlichsten Konzepte von Identität verwirklicht werden können, in der eine Aufgabenteilung von Sozialem, Privatem und Arbeitskarriere gar nicht mehr notwendig sind.


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