180°:

eine leere fröhliche fahrt?

feiern in der kulturindustrie

I. feiern im kapitalismus ist paradox. im fest soll eigentlich der alltag aufgehoben sein, aber im kapitalismus verlängert sich die arbeit in die arbeitsfreie zeit hinein, weil diese, in scheinbarem gegensatz zur arbeit, zu einem ort wird, an dem man etwas mit sich anfangen muss. verdinglichter zugang zum eigenen körper und zum eigenen denken. der zwang, seine arbeitskraft zu verkaufen, seinen körper und geist im sinne der kapitalistischen produktion zu formen und dieser zu überlassen, teilt sich jedem unablässig mit. der zweck von castingshows, schönheits-op-sendungen und studi-vz, ist es, neben ihrem unablässigen blubbern noch in der vermeintlichen abendentspannung unablässig darauf hinzuweisen, dass man gegenüber sich, anderen und überhaupt jederzeit zum äußersten bereit sein muss. alltag der herrschaft im kapitalismus.

II. muße, das entspannte sich überlassen an bunte assoziation und glücklichen unsinn, das, was kulturindustrie verspricht, wird für diejenigen, die sich für die arbeit fit machen müssen, durch schlechtes gewissen (eigentlich müsste man ja lernen) und langeweile tabuisiert. auch oder gerade in der freizeit ist leistung und leistungsfähigkeit maßstab (nicht nur in der fitnesskultur). im absturz am wochenende soll die arbeit, der leistungsdruck vergessen sein, aber er verlängert sich wohl in ihr.

III. freizeit ist begrenzt durch die arbeit; selbst für den, der keine mehr hat. diejenigen, die aus dem ökonomischen prozess ausgestoßen werden, sind diesem nicht entkommen. ihnen droht die systematische erfassung und der direkte zugriff von staat und kapital auf ihre körper und ihr denken. arbeitslosen, die sich trotzdem selber nicht zur ständig abrufbaren arbeitskraft machen wollen, droht die kürzung der bezüge und damit der verlust der grundlage ihrer materiellen existenz, schulschwänzer aus der sogenannten bildungsfernen unterschicht werden mit jugendarrest zu ihrem unglück, der einpassung ins gesellschaftliche system, gezwungen. ihr schicksal schwebt als menetekel über denen, die noch nicht ihr schicksal teilen und hält diese zur unablässigen betriebsamkeit an. der auf lebenszeit verhängte ausnahmenzustand greift über auf alle bereiche des lebens und dieses schrumpft zur bloßen erlangung eines komparativen vorteils durch selbstmanagement und entsagung. muße und entspannung werden zwar überall angepriesen, aber eigentlich darf es niemand sie haben, sonst käme mensch vielleicht auf gedanken. „pause machen geht nicht, sonst bist du arbeitslos und pleite.“ (die türen)

IV. dem entspricht eine kultur, die ihre produkte weichspült und die menschen mit harter übermacht der bloßen produktion in bann schlägt. zur aufrechterhaltung der herrschaft von menschen über menschen, die im unrecht der ökonomischen organisation gründet, wirkt die bloße masse kulturindustrieller produktion (musik, film, werbung, etc. und deren verfransungen) überwältigend; und reproduziert und verstärkt damit die herrschaft. arbeit, fremdbestimmte anstrengung, verlängert sich auch, weil man eigentlich prinzipiell überfordert wird. es ist wohl unmöglich sich in der heutigen popproduktion überhaupt zurechtzufinden, soviel wird angeboten. darauf reagiert man selbst entweder durch mainstreamkonsum oder mit dem rückzug in nischen und subkulturen, die wiederum von der kulturindustrie produziert und angeboten werden. die spätkapitalistische kultur organisiert sich über differenzen als kalkulierte stereotypen, welche die bedürfnisse der menschen nach der kapitalistischen produktion hervorrufen und strukturieren. „die produktion liefert dem bedürfnis nicht nur ein material, sondern sie liefert dem material auch ein bedürfnis.“ (mew 13, s. 624).

V. auch die kulturindustrie lässt keinen standpunkt außerhalb des ökonomischen verhängnisses zu. selbst das, was noch nicht durch ihren apparat durchgegangen zu sein scheint, was sich als independent ihr gegenüberstellt, ist ihr komplementär, ihre fabrikruinen und industriebrachen, zurückgeliebenes oder zwar erfasstes, aber noch nicht vollständig ausgebeutetes. alle kultur im kapitalismus ist müll, der von diesem recycelt wird. damit aber ist nicht das urteil über jedes ihrer erzeugnisse verhängt. „jeder einzelne zug im verblendungszusammenhang ist doch relevant für sein mögliches ende“ (t.w.adorno, gs10.2, s.622). es gilt sich dem ganzen durch bewusstwerdung zu entringen. vor der schlechten realität lässt sich nicht fliehen. flucht wäre bloßer eskapismus, die flucht vorm letzten gedanken an widerstand.

VI. die frage zu stellen, was ein festival, das sich das feiern für ein selbstbestimmtes leben gegen sexismus und nation auf flyer und plakate druckt, von anderen veranstaltungen unterscheidet, scheint darüber irgendwie müßig. wenn es „unmöglich [ist], einen zustand, der in den realen ökonomischen bedingungen gründet, durch ästhetischen gemeinschaftswillen zu beseitigen“ (t.w.adorno, gs14, s.68), was soll das ganze dann? kann man, ja darf man in der kulturindustrie überhaupt noch feiern? ja, darf man. unbedingt und reflektiert. „in einer gesellschaft, welche sich durch die wirtschaftliche konkurrenz reproduziert, stellt schon die forderung nach einem glücklicheren dasein des ganzen eine rebellion dar.“ (h.marcuse, kultur und gesellschaft I, s. 68)


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